Schlimmer geht's immer

Das wohl ehrlichste Sendeformat der Popwelt beweist mit brutaler Eindringlichkeit, dass der Mainstream verloren ist, weil ihm alles egal ist

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Bild: RTL

Seit heute ist sie zu haben, die Musik zur Show, die Platte zur Superstar-Suche, das Seifenblasen-Surrogat aus dem Bohlenschen Laboratorium: "United". DAS Album. Kunden des größten Online-Kaufhauses Amazon.de urteilten schon mal über das Machwerk - die Einschätzungen reichen von "Absoluter Schrott - Finger weg!" über "ganz, ganz arm..." bis hin zur gewogensten: "ein stinknormales Popalbum." Beim Amazon.de-Verkaufsrang steht "United" trotzdem auf Platz eins. Ganz oben wird es auch stehen, wenn am nächsten Montag die neuen, deutschen LP-Charts veröffentlicht werden, denn Deutschland ist nicht mehr zu retten.

12,93 Millionen Zuschauern waren am Samstag dabei, als in einem fast fünfstündigen, durch die 80er-Show unterbrochenen Nonsens-Marathon Vanessa rausgewählt wurde. Das ist eine Quote von 40,3 Prozent, Rekord - natürlich. Das Vanessa fliegen würde, war schon vorher klar. Dafür hatte die Bild-Zeitung gesorgt: "61,5 Prozent der Bild-Leser sind sich sicher: Wackel-Vanessa singt sich heute raus!". Auch T-Online-Nutzer stimmten ab, knapp 60 Prozent sollen auf Vanessas Ausscheiden getippt haben. Jetzt noch verblieben: die blonde Juliette, der Michael Schumacher-Klon Alexander und Daniel Küblböck, den der Spiegel als "tuntig-tangiger Hach-Gottchen-Pfadfinder auf Ecstasy mit typischen Typen-Sätzen wie: I bin halt der, der wo's net nach dem macht, was die anderen sagen" beschreibt. Au Backe.

Seit Big Brother war die Fernsehnation nicht mehr so vereint. Alte und Junge, Akademiker und Arbeiter, Dumme und Schlaue sitzen vor der Glotze und verfolgen die Real-Life-Popstar-Soap. Die einen, weil sie mitleiden und -fiebern, weil sie Fans sind und auf das Durchkommen ihrer Lieblinge hoffen, wie Vati auf den Sieg seiner Mannschaft in der Champions League. Die anderen, weil sie mit einer Mischung aus Schaulust und Ekel einem einzigartigen Menschenversuch beiwohnen wollen, der ihre schlimmsten Vorurteile und Befürchtungen bestätigt. "Deutschland sucht den Superstar" und besteht aus einer riesigen, bunten Blase Nichts. Das ist Opium für alle. RTL kann seine veritable neue Geldmaschine noch hundertmal als "Die Musiksensation des Jahres" ankündigen, selbst die schlichtesten Schlichtlinge haben eines längst erkannt: Es geht hier um alles, nur nicht um Musik. Wie sonst ist es zu erklären, dass der vollkommen verhuschte Daniel noch immer dabei ist, wo er doch erwiesenermaßen weder singen noch tanzen kann? Wer kann ernsthaft wollen, dass dieses Stimmchen in den kommenden zwei Jahren in jede Ritze unseres Alltags plärrt? Eben, es ist egal. Es ist so egal, wie damals bei Zladko, der weder singen noch reden konnte, wie bei "Arschloch"-Christian, der weder singen noch denken konnte. Beide hatten Nummer-Eins-Hits, weil die Leute diese Typen liebten, nicht die Musik. Man muss schon ein ziemlich verblendeter Nichtsraffer sein, nimmt man an, es ginge hier um Können, Kunst oder Kreativität. Aber um was geht es dann?

Es geht um die Lieblingsbeschäftigung des Durchschnittsdeutschen: Lästern, Klatschen, Tratschen. Es geht darum, sein eigenes, langweiliges Dasein mit Geschichten aus fremder Leute Leben auszuschmücken. Ein Freund fuhr jüngst mit 40 fußballspielenden Polizisten im Bus heim von einem Turnier. Es war Sonntag und der Bus hielt an einer Raststätte. Wie manisch rannten die Ü-30-Männer zum Zeitungsstand, rissen die notorische Bild am Sonntag an sich und bestritten die restlichen fünf Stunden der Fahrt mit hitzigen Diskussionen über die angehenden Superstars. Das taten sie vollkommen unironisch und mit großer Ernsthaftigkeit. So machen das fast alle.

Und dann gibt es noch jene, die in "Deutschland sucht den Superstar" den Untergang des Abendlandes sehen. Sie schalten selten ein, wenn die Sendung läuft, sie lesen nur hier und da einen Artikel, sie hören den Hit zur Serie "We Have A Dream", weil er überall tönt und sie zetern und wettern über die kreative Nichtigkeit des Ganzen, über den kulturellen Schmutz-Kübel, der da übers Land entleert wird. Das können sie sich sparen. Denn das weiß schon jeder. Und es ist ihnen egal.

In Internet-Foren diskutieren Tausendschaften darüber, ob die Abstimmungen gefälscht sind, ob die Kandidaten ausgebeutet werden, ob das nicht alles eine riesengroße Verarsche ist. Und dann schalten sie wieder ein. Denn gerade die Gerüchte und Skandale geben der Sache den nötigen Zug. Ob Fans, Verächter oder Verunsicherte: jeder muss dabei sein, um eine Meinung zu haben, um mitreden zu können - denn über nichts anderes wird mehr geredet.

Dabei ist "Deutschland sucht den Superstar" das wohl aufrichtigste und ehrlichste Sendeformat, das die Popwelt jemals kreierte. All das, was jahrelang hinter den dicken Stahltüren undurchsichtiger Talentschmieden geschah, passiert nun ungeniert auf offener Bühne vor einem Millionenpublikum. Da werden Stimmtrainer und Tanz-Choreographen eingeflogen, um die potenziellen Stars für den Popmarkt fit zu machen. Stilberater sorgen für das richtige Outfit, auf dass das mehr oder weniger talentierte Individuum zu einem geldbringenden Neutrum werde. Die Kandidaten werden kaserniert und für den Fronteinsatz gedrillt. Es sitzt ein fieser, feister Plattenfirmenfuzzie im Gestühl und vernichtet Kinderträume mit brutalen Worten. Es sitzt der Pate des deutschen Pop - Bohlen - daneben, sagt Sätze wie "Riesen Titel, riesen Stimme, riesen Beine", nimmt ein altes Lied, dessen Refrain er einst von Tom Jones stahl, und lässt es die Kandidaten singen; verdient Millionen in dem er Aufgekochtes aufkocht - und jeder kann dabei sein. Und keinen stört's. Das ist ein harter Schlag für all jene, die jahrelang versuchten ihren Chart-verseuchten Mitmenschen klar zu machen, dass das alles nur eine verlogene, oberflächliche, seelenlose Geldfabrik ist, was sie Pop nennen. Die Leute wissen das. Es stört sie nicht. Sie sind sogar noch anspruchsloser, als es sich Bohlen und Co. je erträumten. Und das könnte den "Superstar"-Machern am Ende zum Verhängnis werden.

Denn dass es der 17-jährige Daniel aus dem niederbayerischen Eggenfelden unter die letzten Drei geschafft hat, ist für die Macher ein Unfall. Denn tatsächlich suchen sie einen Star, der wie Sasha, Sarah Connor oder Jeanette Biedermann über Jahre hinweg Millionen einspielt. Dafür taugt Daniel aber nicht, weil er nicht singen kann. Er wird aus den selben Gründen geliebt, wie einst Zladko und Christian; weil er ein Depp ist, ein Freak, ein amüsanter Sonderling. Genau so schnell wie Zladko und Christian wird er auch wieder verschwinden. Und schon schlägt die Stimmung der Jury um, hagelt es Schelte und Kritik für den piepsenden Kasper. Panisch schreibt RTL auf der Homepage der Sendung über Daniels "Größenwahn" und fragt: Wieviel Daniel ist noch übrig? Das Publikum liebt ihn trotzdem, denn es geht ja nicht um Musik. Das Publikum entscheidet, dafür sorgt das demokratische Abstimmungssystem - sollten die Anrufe der Zuschauer tatsächlich Einfluss auf die Entscheidung haben. Und so wäre es ein trauriger Triumph, ein Menetekel, ein grandioses Finale wenn am Ende der gewinnt, der am wenigsten kann. Es würde bedeuten, dass die Zuschauer noch anspruchsloser sind als angenommen. Die Grenzen nach unten sind offen, schlimmer geht's immer. Das ist die Wahrheit. Und die tut schon gar nicht mehr weh.