Die Pocken am Frühstückstisch

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung übt sich im Bildzeitungs-Journalismus und deckt eine von der Bundesregierung verschwiegene Gefährdung durch den Irak auf

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Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat einen investigativen Fund gemacht, der endlich mal wieder eine aufregende Schlagzeilenmeldung an den sonntäglichen Frühstückstischen der Deutschen erzeugen soll. Die Bundesregierung soll nämlich aus wahltaktischen Gründen verschwiegen haben, dass der Irak nach Informationen der Geheimdienste über "Pockenerreger" verfügt haben soll, während eifrig Impfstoff gekauft wurde. Jetzt hat die Bundesregierung also nach der FAZ auch noch die Friedensdemonstranten getäuscht.

Marietta Slomka witterte offenbar in ZDF-heute am Samstag Abend nach all diesen Friedensdemonstrationen einen Knüller und versuchte mit weit aufgerissenen Augen, einen Skandal witternd, den ziemlich aufgeschreckt wirkenden Innenminister Otto Schily Geheimnisse zu entlocken. Der machte tatsächlich kein gutes Bild, stammelte und verhaspelte sich ob des Vorwurfs, die Deutschen über die sie bedrohende Gefahr aus dem Irak betrogen zu haben, und sagte, dass die Mitteilung des Gesundheitsministeriums vom August des letzten Jahres etwas übertrieben formuliert worden war, um die Gelder für den Kauf von Impfstoffen für die gesamte Bevölkerung zu erhalten. Man wisse nur seit 1995, dass der Irak mit Kamelpocken experimentiert habe, aber es gebe keine Kenntnisse der Geheimdienste, dass der Irak über Menschenpocken-Viren verfüge. Schily, der sich angeblich beim BND rückversichert hatte, warf der FAZ und dem ZDF überdies - und vermutlich zurecht vor - hier ohne weitere Recherche einen Sensationsjournalismus zu betreiben.

Tatsächlich wäre der Vorwurf wahrscheinlich noch größer, wenn die Bundesregierung angesichts der seit geraumer Zeit kursierenden und von der US-Regierung immer wieder hochgespielten Warnungen vor einem Anschlag mit Pockenerregern nichts zur Vorsorge getan hätte. Die FAZ macht, sekundiert durch einen Kommentar von Berthold Kohler, einen der Herausgeber, daraus den - natürlich nur - "Verdacht", dass die Bundesregierung wegen der anstehenden Bundestagswahl "die tatsächliche Bedrohung durch den Irak verschwiegen" habe. Neben der Mitteilung aus dem Gesundheitsministerium dient der FAZ dabei offenbar der FDP-Vorsitzende Westerwelle als Hauptbelastungszeuge. Der habe nämlich schon lange die Bundesregierung dafür kritisiert, "dass sie die Gefahr beschönige". Westerwelle "sagte dieser Zeitung: 'Die Bedrohungslage durch den Irak ist weit ernster, als die Regierung zugeben will.'"

"Millionen demonstrierten am Samstag in aller Welt gegen einen Krieg, den sie für falsch und vermeidbar halten. Auch viele Deutsche gaben dieser Überzeugung Ausdruck, die, das liegt in der Natur der Sache, mehr auf Glauben und Gesinnung als auf faktischem Wissen gründet. Sie taten es auch im Vertrauen auf ihre Regierung, die ihnen bei jeder Gelegenheit versichert, daß vom Irak und von einer möglichen Verbindung zum transnationalen Terrorismus keine akute Gefahr ausgehe, jedenfalls keine, die ein baldiges militärisches Eingreifen erforderte und nicht durch ein Inspektionsregime beherrschbar wäre. Das ist von Anfang an tragender Teil der durchaus erfolgreichen Argumentationslinie des Bundeskanzlers und seines Außenministers gegen den Krieg gewesen, im Bundestag wie im UN-Sicherheitsrat. Doch stimmt auch, was sie behaupten?" - FAZ-Herausgeber Berthold Kohler in seinem auf Fakten gestützten Kommentar

Die FAZ also will sich tapfer der ungeliebten rot-grünen Regierung und den Friedensbewegten entgegenstellen, die immerhin ein wenig noch umschmeichelt, aber eigentlich für dumm verkauft werden, weil sie nur die Betrogenen der Regierung seien und eigentlich doch hätten Westerwelle Glauben schenken sollen. Verwunderlich ist allerdings schon, dass auch anderswo auf der Welt Menschen wie in Spanien, Italien, Großbritannien oder der USA auf die Straßen gingen, die schon aus dem Grund nicht von ihren Regierungen in dieser Hinsicht getäuscht worden sein können, weil diese sich hinter Bush für eine militärische Lösung ausgesprochen und angestrengt nach Bedrohungspotenzialen gesucht haben, die vom Irak ausgehen.

Bleibt also der unerklärliche Umstand, warum die deutschen Nachrichtendienste mehr und vor allem genaueres wissen sollen als die übrigen Geheimdienste, denn verwunderlich wäre schon, wenn es Beweise für die Existenz von waffenfähigen Pockenviren im Irak geben sollte und die britische oder die amerikanische Regierung diese nicht vorgelegt hätten. Wollten die aus der Weltsicht der FAZ wiederum nur ihre Bürger schonen?

Tatsächlich steht in dem Dokument, bei dem es um die Bewilligung von 30 Millionen Euro zur Beschaffung von Pockenimpfstoffen für die gesamte Bevölkerung geht, dass die Nachrichtendienste auf "eine akute Verschärfung der Gefährdungslage" hinweisen. Und dann kommt der Satz: "Den deutschen Sicherheitsdiensten liegen dokumentierte Erkenntnisse vor, dass Pockenerreger außerhalb der offiziellen Labore in Atlanta und Koltsovo illegal, z.B. in Russland, Irak und Nordkorea, gelagert werden."

Nun käme es natürlich darauf an, was das Gesundheitsministerium und womöglich die Nachrichtendienste unter "dokumentierten Erkenntnissen" verstehen. Auffällig ist beispielsweise schon, dass beispielsweise von anderen Ländern gesprochen wird. Dokumentiert könnten Erkenntnisse auch sein, wenn sie von anderen Nachrichtendiensten stammen. Tatsächlich wird schon des längeren spekuliert, dass Pockenkulturen auch in andere Hände gelangt sein könnten, bevor sie als ausgerottet galten und offiziell nur die beiden Labore noch über Kulturen verfügten (Anpassung an die politischen Wirklichkeiten). Nach der Formulierung des Satzes sollte es sich tatsächlich um menschliche Pockenviren handeln, Innenminister Schily streitet aber ab, dass die Nachrichtendienste wirkliche Kenntnisse von derartigen Kulturen im Irak haben. Bekannt sei, dass der Irak mit Kamelpocken experimentiert habe - und das ist wirklich schon lange bekannt (Der biologische Krieg könnte zuerst in der Landwirtschaft stattfinden). Der Rest besteht vermutlich aus Gerüchten, Vermutungen, bezweifelbaren Äußerungen von Menschen, die aus dem Irak geflohen sind.

Man wird Schily Glauben schenken können, wenn er sagt, dass man aufgrund einer "abstrakten" Bedrohung gehandelt habe. Und eigentlich hätte die Frage gestellt werden können, warum das Hauptaugenmerk auf eine Pockenepidemie, nicht aber auf andere Infektionen wie etwa Milzbrand gerichtet worden ist. Vermutlich stand man hier unter großem Druck durch das Vorbild der USA, wo man bereits eine Gesamtversorgung der Bevölkerung mit Impfstoffen geplant hatte. Verwiesen wird auch auf Israel. Deutschland sei möglicherweise, weil hier die Bevorratung bekanntermaßen unzureichend sei, ein attraktives Ziel für Terroristen. Das mag sein, hätte aber nicht notwendigerweise direkt etwas mit dem Irak zu tun.

Man hätte das Gesundheitsministerium eher kritisieren sollen, weil von diesem, wie es selbst einräumte, die Gefährdung durch einen Anschlag weitaus übertrieben wurde. So ist davon die Rede, dass mit "30 bis 40% Todesfällen zu rechnen" wäre. Ein so flächendeckender Anschlag würde eine ganze Armada an Flugzeugen oder Raketen verlangen, die ganz Deutschland mit unvorstellbaren großen Mengen an Erregern einstäuben müssten. Ein gelingender Anschlag an einem Ort wäre immer noch sehr gefährlich, weitaus gefährlicher wäre aber wohl die daraus entstehende Panik und vielleicht auch die vorsorgliche Impfung der gesamten Bevölkerung in einem Ernstfall. Auch in den USA raten Experten davon ab. In einem anderen Artikel weist man auch in der FAZ darauf hin. Doch setzt die seriöse FAZ lieber auf die aufmerksamkeitserregende Panik, indem - eigentlich sollte man meinen: gegen das eigene Wissen - unkritisch das angebliche Gefährdungspotenzial weiter gegeben wird.

Wenn Schily im ZDF-Interview sagt, dass die Sicherheitslage "angespannt" sei und durch einen Krieg im Irak verschärft werde, dann ist dies schlicht richtig. Und man kann sich in der Tat fragen, ob nicht das Vorgehen der USA das Risiko weiterer Anschläge und vielleicht auch von Anschlägen mit biologischen Kampfstoffen verstärkt hat. Ein Angriff auf den Irak kann schließlich nicht nur von Angehörigen des Hussein-Regimes mit Anschlägen irgendwo auf der Welt und auch in Deutschland beantwortet werden, sondern auch Terroristen, die in keiner Verbindung mit Hussein stehen, eine vermeintliche Legitimation bieten.