Präzisionsschläge sorgen für Kollateralschaden

Neue Terminologie für alte Prinzipien der Kriegspropaganda

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Der moderne Krieg wird natürlich mit modernen Waffen geführt und soll als "sauberer" Krieg verkauft werden. Seitdem "humanitäre" Kriege geführt werden, die zumindest der Propaganda nach wesentlich uneigennützig sind, wurde es auch wichtig, möglichst wenig Schaden anzurichten. Das Wort dafür, das seitdem im Umlauf ist und 1999 zum Unwort des Jahres getauft wurde, nämlich Kollateralschaden, bezeichnet eben just einen angeblich unbeabsichtigen und ungewollten Schaden an Personen und Material. Im Irak-Krieg hat sich allerdings mittlerweile in der Rhetorik des US-Militärs auf inflationäre Weise den Komplementärbegriff des "Präzisionsschlags" durchgesetzt.

Von al-Dschasira veröffentlichtes Bild über die Folgen der amerikanischen "Präzisionsschläge" auf Falludscha. Bilder von getöteten oder verletzten Kindern werden gerne von den US-kritischen arabischen Medien gezeigt, in den westlichen Medien vermeidet man dies eher und zeigt eher die Bilder über die Folgen von Terroranschlägen. Der Leser kann im Allgemeinen nicht beurteilen, welche Versionen bzw. welche Gewichtungen zutreffen.

Am 25.9.2004 meldete das Pentagon erneut einen "Präzisionsschlag" mit Bombardierungen aus der Luft und Panzerbeschuss für den Samstag Morgen. Dabei wurden Ziele in einem Wohnviertel in Falludscha zerstört, die angeblich Mitgliedern der Terrorgruppe von al-Sarkawi als Unterschlupf dienen. Es folgten am Abend und am Sonntag weitere "Präzisionsschläge". Die Meldung des US-Verteidigungsministeriums für den Angriff am Samstag Morgen bezog sich wiederum auf eine Meldung der multinationalen Truppen, die allerdings nicht mehr online ist, nur noch auf arabisch (Zitat von Reuters:

Informanten hatten berichtet, dass Sarkawi-Terroristen sich an diesem Ort treffen, um weitere Angriffe auf irakische Bürger und multinationale Truppen zu planen. In der unmittelbaren Umgebung gab es zur Zeit des Schlags nach den Berichten keine unschuldigen Zivilisten. Multinationale Streitkräfte führten vielfältige Maßnahmen aus, um einen Kollateralschaden und Opfer unter Zivilisten zu minimieren.

US-Leutnant Lyle L. Gilbert, eine Sprecherin der Koalitionstruppen, erklärte, dass sieben Aufständische getötet worden seien, aber dass es "keine Verletzungen oder Tote bei Nichtkämpfern" gegeben habe. Nach Angaben von Ärzten, so Reuters, wurden mindestens sieben Personen getötet und 13 verletzt, darunter Frauen und Kinder. Zwei Frauen und zwei Kinder wurden, wie Reuters zeigte, von Irakern aus dem Schutt noch lebend geborgen. Al-Dschasira berichtete von mindestens 15 Toten und 25 Verletzten. Al Dschasira zitiert den Direktor des Allgemeinen Krankenhauses von Falludscha, der sagte, dass 8 Menschen, darunter ein Kind, getötet und 17 Personen, darunter 4 Kinder und 2 Frauen, verletzt wurden. Nach BBC wurden bei dem ersten Angriff mindesten 8 Iraker getötet und 15 verletzt, beim zweiten soll es mindestens 7 Tote und 11 Verletzte gegeben haben.

Auch für den zweiten "Präzisionsschlag" wurde Erfolg gemeldet, wobei zunächst vom "Irak" die Rede ist, später von den multinationalen Truppen, die freilich unter dem Oberkommando des Pentagon stehen, die "Präzisionsschläge" wurden von der US-Luftwaffe durchgeführt.

Irak führte einen erfolgreichen Präzisionsschlag gegen das Abu Musab al Sarkawi Netzwerk durch Zerstörung eines primären Treffpunkts aus. Der Schlag hatte einen Terroristentreffpunkt im Stadtteil Jolan von Falludscha zum Ziel. Informanten hatten berichtet, dass etwa 10 Terroristen sich an diesem Ort trafen, um weitere Angriffe auf irakische Bürger und multinationale Truppen zu planen. Auf den Schlag folgten vielfältige sekundäre Explosionen, was darauf hinweist, dass der Ort von Terroristen benutzt wird, um Sprengstoff und Waffen zu lagern. Die wachsende Verfügbarkeit von "intelligence"-Berichten und der Einsatz von Präzisionsschlägen haben es den irakischen Sicherheitskräften und den multinationalen Truppen ermöglicht, die Kapazitäten des Netzwerks von ausländischen Terroristen Sarkawis bereits zu schwächen.

Mahmud al-Jarisi, der Verwalter von Falludscha, soll nach al Dschasira gesagt haben, dass die Bombardierung am Samstag sich gegen ein Wohngebiet gerichtet haben: "Alle Opfer waren Zivilisten." Er macht Fehler der Informationsbeschaffung dafür verantwortlich. Angeblich soll aber, wie die Washington Post meldet, zumindest ein Sarkawi-Anhänger, nämlich der Saudi Abu Ahmed Tabouki, der als Stellvertreter Sarkawis in Falludscha gilt, am Samstag getötet worden sein. Man darf spekulieren, ob die Angriffe tatsächlich vermeintlichen Anhängern von Sarkawi gegolten haben, ob man die Präzisionsschläge sicherheitshalber gestartet hat, um Terroristen zu treffen, auch wenn man Informationen nur durch bezahlte Informanten erhalten hat, die oft genug schon Falsches erzählt haben, oder ob die Angriff vor allem auch die Bevölkerung von Falludscha - eine "Hochburg des Widerstands" genannt - in Angst versetzen soll, so dass sie die Stadt verlässt.

Die genauen Zahlen zu kennen, wäre zwar wichtig, ist aber wohl unmöglich, schließlich stammen die Meldungen aus verschiedenen Quellen mit unterschiedlichen Interessen. Weitgehend sicher aber dürfte sein, dass die "Präzisionsschläge" - beispielsweise durchgeführt mit 250 kg-Bomben auf Gebäude im Zentrum einer Stadt - kaum Verluste unter der Zivilbevölkerung vermeiden können. Zur Rechtfertigung dient dann meist die Argumentation, dass die feindlichen Kämpfer sich hinter Zivilisten als Schutzschilde verschanzt hätten. Dabei ließe sich natürlich fragen, wie sich US-Soldaten angesichts einer militärisch weit überlegenen macht mit Lufthoheit verhalten würden, wenn sie sich in einer Stadt aufhalten würden. Würden sie sich etwa auf einem offenen Platz den Bomben stellen, die dann präzise nur sie treffen würden?

Nadschaf nach dem Stadtkampf

Drei Wochen hatte das US-Militär die Aufständischen der Mahdi-Armee von al-Sadr ind er weitaus weniger den Amerikanern feindlich gesinnten Stadt Nadschaf bekämpft und dabei erhebliche Schäden angerichtet. Man rechnet mit Wiederaufbaukosten von 500 Millionen US-Dollar, während die Stadt, ein wichtiger Pilgerort, große wirtschaftliche Einbußen in der sowieso kaum vorhandenen Wirtschaft Iraks einbüßt. Zwar verkauft das US-Militär den Kampf in Nadschaf als Erfolg, da die Stadt von Aufständischen befreit wurde und von den Soldaten wieder betreten werden kann, allerdings sind die Sadr-Anhänger durch Vermittlung des Geistlichen Sistani abgezogen und liefern sich weiterhin in anderen Städten Kämpfe mit den Koalitionstruppen. Wenn schon Nadschaf für einen letztlich nicht militärischen, sondern diplomatischen Sieg großflächig zerstört werden musste, kann man ermessen, wie das befreite Falludscha aussehen würde. Hier scheint ein großer Teil der Bevölkerung im Gegensatz zu Nadschaf hinter den Aufständischen zu stehen. US-Truppen haben seit Mai die Stadt nicht mehr betreten.

Zwar werden die Toten und Verletzten der US-Truppen und der multinationalen Streitkräfte einzeln aufgelistet - wobei manche vermuten, dass das Pentagon die Zahlen schönen könne -, auffällig ist jedoch, dass es eine ähnliche offizielle Erfassung der Toten und Verletzten bei den irakischen Sicherheitskräften und vor allem bei den irakischen Zivilisten nicht gibt, was von systematischem Desinteresse zeugt (Irakmethik: Die Zahlenspiele mit den zivilen Opfern). Auch das gehört zum altbekannten Propagandageschäft. Die Feinde sind nicht nur böse und Schuld am Krieg, sie halten sich auch nicht an Moral und Gesetze, vor allem aber sind die Verluste bei den eigenen Truppen gering und die beim Gegner groß, der auch verantwortlich ist für den Tod der meisten Zivilisten. Schon nach den jetzt bekannt gewordenen Zahlen des irakischen Gesundheitsministeriums wurden, wie KnightRidder berichtet, doppelt so viele Menschen - in aller Regel Zivilisten - durch Operationen der irakischen Sicherheitskräfte und der Koalitionstruppen als durch Anschläge getötet. Wie zuverlässig die Zahlen sind, ist wiederum schwierig zu beurteilen.

Seit Juni werden Opfer von Terroranschlägen und von Operationen der Truppen unterschieden, wobei allerdings nicht Zahlen von allen Provinzen vorliegen. Danach sind zwischen dem 10. Juni und dem 10. September zwei Drittel der Toten (1.295) von multinationalen Truppen und den irakischen Sicherheitskräften verursacht worden, ein Drittel (516) von Terroristen durch Bomben in Wohngebieten, Autobomben oder Morden.

Propaganda im alten Stil mit neuen Worten

Der mit dem nuklearen Wettrüsten drohende Overkill des Kalten Kriegs, aber auch der reale Overkill beiden Weltkriege zuvor, wohl vorläufig noch immer gipfelnd in der militärisch kaum mehr zwingenden Bombardierung von Nagasaki und Hiroshima mit Atombomben, scheint mittlerweile nur noch die Strategie der Terroristen zu sein. Mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen Terrorgruppen, möglichst viele Opfer zu töten und zu verwunden. Kollateralschaden zu verursachen, ist gewissermaßen just das, was sie meist erzielen wollen.

Als Gegner einer militärisch weit überlegenen Macht in den asymmetrischen Konflikten ist ihre Strategie in vielen Hinsichten das Gegenteil von dieser. Während Terroristen (oder auch Aufständische, die zu terroristischen Methoden greifen) aus dem Versteck heraus zuschlagen, aber das Territorium nicht oder nur teilweise beherrschen, muss die militärische Macht sich offen zeigen, weil sie den Raum zu kontrollieren sucht und eine dauerhafte Präsenz zeigen muss.

Beide Seiten versuchen die Medien für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Terroristen wollen etwa Bilder ihrer blutigen Anschläge und ihrer Morde in der Öffentlichkeit zirkulieren lassen, um auf sich aufmerksam zu machen, ihre Macht zu demonstrieren sowie Furcht und Anerkennung zu erreichen. Die militärische Macht führt ihre Schläge normalerweise möglichst ohne Beobachtung durch (kritische, unkontrollierbare) Medien aus, versucht Bilder von Opfern ihrer Aktionen (und Misshandlungen) aus der Öffentlichkeit herauszuhalten und präsentiert sich am liebsten als unangefochtener Inhaber der Macht und als Agent des Guten.

Normalerweise steht das Militär als Mittel eines Staates unter dem Zwang, gewisse Spielregeln einzuhalten (oder deren Verletzung nicht offen zu begehen). Die militärische Macht vertritt das "Recht" in einem Territorium und gegenüber der Weltöffentlichkeit, den anderen Staaten und den internationalen Organisationen, die Terroristen bestreiten dieses Recht und sehen sich deswegen berechtigt, aufgrund der militärischen Überlegenheit des Gegners und dessen Machtausübung zu den Mitteln greifen zu können, die ihnen zur Verfügung stehen, um möglichst effektiv handeln zu können. Da die Aufständischen, die zu Terroristen werden, per se aus der Perspektive der herrschenden Macht, gleich ob es sich um ein autoritäres Regime oder um einen demokratischen Rechtsstaat handelt, gegen das Recht verstoßen, übernehmen sie den Rechtsbruch in der Praxis der Terroranschläge, Geiselnahmen und Exekutionen. Besonders Terroristen mit einem religiösen Hintergrund scheinen jede Rücksicht auf "säkulare" politische, rechtliche und moralische Grenzen ihres Tuns zu verlieren und zur terroristischen Maßlosigkeit zu neigen.

Die Rede von "Kollateralschaden" und "Präzisionsschlägen" ist eine Folge der Medienstrategie oder der Propaganda, mit der Regierungen und militärische Machtapparate ihre Handlungen gegenüber der eigenen Bevölkerung, wenn sie im Ausland im Einsatz sind, und gegenüber der Weltöffentlichkeit darstellen wollen. Dem liegt freilich ein Propagandaschema zugrunde, das keineswegs neu ist. Dem Gegner werden stets Gräuel unterschoben, während die eigene Seite höchstens Fehler begeht, für die sie aber nicht zur Verantwortung gezogen werden darf, weil sie ja für die gute Sache gegen die Bösen kämpft.

Von Anne Morelli, einer Geschichtswissenschaftlerin aus Belgien, ist gerade ein Buch über "Die Prinzipen der Kriegspropaganda" auf deutsch im Verlag zu Klampen erschienen. Sie stellt ihr schmales, aber sehr lesenswertes Buch in direkten Kontext zu dem Buch des Briten Arthur Ponsonby, das 1928 unter dem Titel "Falsehood in Wartime" veröffentlicht wurde.

Lying, as we all know, does not take place only in war-time. Man, it has been said, is not "a veridical animal," but his habit of lying is not nearly so extra-ordinary as his amazing readiness to believe. It is, indeed, because of human credulity that lies flourish. But in war-time the authoritative organization of lying is not sufficiently recognized. The deception of whole peoples is not a matter which can be lightly regarded.

A useful purpose can therefore be served in the interval of so-called peace by a warning which people can examine with dispassionate calm, that the authorities in each country do, and indeed must, resort to this practice in order, first, to justify themselves by depicting the enemy as an undiluted criminal; and secondly, to inflame popular passion sufficiently to secure recruits for the continuance of the struggle. They cannot afford to tell the truth. In some cases it must be admitted that at the moment they do not know what the truth is.

Arthur Ponsonby

Der Abgeordnete der Liberalen, der aus Protest gegen den Kriegsbeitritt Großbritannien zunächst zur Labour-Partei gewechselt ist und dort auch als Minister tätig war, gründete 1914 mit Kollegen die "Union of Democratic Control", um die britische Außenpolitik zu beobachten und die Propaganda der Regierung zu entlarven. Die Aktivitäten der Gruppe erweiterte sich im Ersten Weltkrieg schnell auch ins Ausland, da jede Regierung mit Lügen und Verdrehungen ("Spin") agierte, um die eigenen Leute kriegswillig zu machen oder zu halten und den Gegner zu verteufeln. In seinem Buch hat der überzeugte Pazifist die wichtigsten Propagandastrategien von Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und den USA vorgestellt und analysiert.

Zumindest nach der Lektüre von Anne Morellis 10 Prinzipien der Kriegspropaganda hat sich wenig geändert seit dem Ersten Weltkrieg. Erstaunlich ist eher, dass die Lügen der Propaganda trotz globaler Öffentlichkeit noch immer zu funktionieren scheinen, zumindest aber nur in ein wenig neuer Terminologie, im Fall der "Präzisionsschläge" technisch begründet, weiterhin angewendet werden. Zu den wichtigsten Prinzipien gehört, was auch bei den humanitären Kriegen der Fall war, dass Kriegführende stets beteuern, selbst den Krieg nicht zu wollen, sondern in ihn hineingezwungen worden zu sein, beispielsweise eben auch, um einem anderen Staat oder einer Bevölkerungsgruppe zu helfen. Natürlich hat der Feind "dämonische" Züge und ist an allem Schuld.

Mit dem ersten Golfkrieg, dann in den humanitären Kriegen im Kosovo und schließlich im Krieg gegen den Terrorismus, geführt in Afghanistan, im Irak und anderswo mussten wir erleben, dass auch demokratische Regierungen weiterhin Propagandalügen fabrizieren, um Entscheidungen zu legitimieren und die Menschen hinter sich zu bringen. Anne Morelli:

Wir schenken heute Lügenmärchen genauso Glauben wie die Generationen vor uns. Das Märchen von kuwaitischen Babys, die von irakischen Soldaten aus ihren Brutkästen gerissen wurden, steht dem von belgischen Säuglingen, denen man angeblich die Hände abgehackt hat (dies wurden den deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg zugeschrieben), in nichts nach. Beide haben ihren Zweck erfüllt, unser Mitgefühl zu wecken ... Vielleicht im ersten Golfkrieg noch bereitwilliger, hat sich doch die Kommunikation inzwischen zu einer perfekten Kunst entwickelt. Da ohne die Zustimmung der Bevölkerung heute ein Krieg weder erklärt noch geführt werden kann, haben sich die persuasiven Methoden, mit denen diese Zustimmung erreicht werden soll, immer mehr verfeinert. ...

Die Schaffung eines geradezu hypnotischen Zustands, in dem sich die gesamte Bevölkerung im tugendhaften Lager des gekränkten Gutmenschen wähnt, entspricht wahrscheinlich einem pathologischen Bedürfnis. Wie gerne reden wir uns selbst und anderen ein, wir würden uns an einer noblen Operation beteiligen, das Gute gegen das Böse zu verteidigen