Der anonyme Reichtumsbauch der deutschen Gesellschaft

"Das Proletariat kommt nicht wieder, aber die Proletarietät". Ein Gespräch mit dem Korruptions- und Armutforscher Werner Rügemer

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Der Abstand zwischen Arm und Reich ist laut den vorab durchgesickerten Ergebnissen des Armutsberichts der Bundesregierung während der rot-grünen Regierungszeit weiter gewachsen. Die Zahl der Haushalte, die mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittsbudgets auskommen müssen, ist demnach von 12,1 Prozent auf 13,5 Prozent gestiegen. Mittlerweile lebt jede siebte Familie unter der Armutsgrenze. Dafür ist aber der Anteil der reichsten 10 Prozent der Bevölkerung am Gesamtprivatnetto-Vermögen von 45 auf 47 Prozent, also auf 5 Billionen Euro angewachsen. Es ist also an der Zeit zu fragen, wie diese Entwicklung von Armut und Reichtum in Deutschland überhaupt zustande kommt.

Eine Kapazität auf diesem Gebiet ist Werner Rügemer. Der Korruptions- und Armutsforscher ist Vorstandsmitglied von Business Crime Control (BCC) und Mitarbeiter bei der "Internationalen Gramsci Association", bei "Transparency International" und bei "attac". Außerdem ist er als Lehrbeauftragter an der Universität zu Köln tätig und arbeitet als Berater und Publizist.

Das logische Zentrum des gesellschaftlichen Orkans

2003 ist von ihm bei der "Bibliothek dialektischer Grundbegriffe"eine kurze, aber elementare Einführung in das Thema "arm und reich" erschienen, in welcher er den Lebenslagenbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2001 verarbeitet hat. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Armut und Reichtum keine für sich stehenden Kategorien sind, sondern "Fernwirkungen des dialektischen Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital"- gewissermaßen das logische Zentrum des gesellschaftlichen Orkans, das sich die neoliberale Ökonomie beharrlich weigert, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Aktuelle Veröffentlichungen von Werner Rügemer sind der von ihm herausgegebene Band "Die Berater. Ihr Wirken in Staat und Gesellschaft" und "Cross Border Leasing. Ein Lehrstück zur globalen Enteignung der Städte" 2002 erhielt er den Journalistenpreis des Bundes der Steuerzahler NRW. Telepolis führte ein Gespräch mit dem Armutsforscher.

Während über die Medien ständig kolportiert wird, dass "wir alle" über unsere Verhältnisse gelebt haben und "wir alle" jetzt den Gürtel enger schnallen müssen, weisen Kritiker der Agenda 2010 darauf hin, dass in Deutschland genug Reichtum vorhanden ist, nur dass dieser ungenügend verteilt ist. So hieß es in dem Aufruf zur Großdemonstration am 2. Oktober in Berlin gegen Hartz IV : "756.000 Millionäre verfügen mit 2900 Milliarden Euro über mehr als 70 Prozent des Geldvermögens, über 50 Prozent der Haushalte dagegen über kaum mehr als 5 Prozent." Stimmen solche Zahlen für Deutschland? Können Sie uns darlegen, was sie unter Armut und Reichtum verstehen, wo Armut und Reichtum beginnt und haben Sie andere konkrete Zahlen, die diese soziale Situation illustrieren?

Werner Rügemer: Die offizielle Statistik sagt hinsichtlich des Vermögens heute so gut wie gar nichts aus. Nehmen wir zunächst das Immobilien- und Grundstückseigentum, das einen großen Teil des individuellen und betrieblichen Vermögens ausmacht. Es wird in den offiziellen Statistiken nach dem "Einheitswert" geschätzt. Der hat mit dem Marktwert nichts zu tun. Der Einheitswert wurde, solange die Vermögensteuer erhoben wurde, gesetzlich festgelegt; Ausgangsjahr ist 1964, seitdem wurde der Wert alle paar Jahre flächendeckend ein bisschen angepasst. Unterschiedliche Wertentwicklungen etwa in innerstädtischen Lagen blieben ganz unberücksichtigt. Die Regierungen begünstigten damit die niedrige Besteuerung vor allem des besonders wertvollen Grund- und Immobilienvermögens.

"Arme Millionäre"

Ein Mietshaus im Marktwert von einer Million Euro konnte so mit einem Einheitswert von 50.000 Euro geschätzt und besteuert werden. Seit 1998 wird die Vermögensteuer gar nicht mehr erhoben, die "Einheitswerte" bleiben auf dem damaligen Stand eingefroren. Gleichzeitig dienten und dienen diese steuerlichen Daten, um die offizielle Statistik über das Vermögen zu erstellen. Grundstücke und Immobilienvermögen im Ausland werden meistens überhaupt nicht erfasst. Auch bei Firmenanteilen, Aktien und anderen Wertpapieren legt das Bundesamt für Statistik nur die Daten der Finanzämter zugrunde. Auch dabei werden zahlreiche steuerfreundliche Abwertungen vorgenommen. So spiegelt die offizielle Statistik bestenfalls einen Teil der steuerlichen Bewertung bzw. Nichtbewertung und Nichterfassung des Vermögens und die mehr oder weniger auf dem Nullpunkt angekommene Steuermoral der vermögenden Schichten wider.

756.000 Millionäre in Deutschland? Dazu ist folgendes zu bemerken: "Millionär" ist heute auch nicht mehr das, was es einmal war, selbst wenn man nun mit dem Euro rechnet. Es gibt nach meiner Schätzung eine Million "armer Millionäre", die mit ihrem etwas größeren Eigenheim oder mit ihrer 200-Quadratmeter-Eigentumswohnung in einem guten Stadtviertel schon Millionäre sind. Diesen Status kann nach 20, 30 Jahren z.B. schon ein akademisches, beruftätiges Ehepaar erreichen. Und solche Leute haben normalerweise nicht nur Wohneigentum. Sie haben vielfach noch ein Ferienhaus im Ausland, ein oder zwei kleinere Eigentumswohnungen, etwa für die studierenden Kinder oder einfach als Geldanlage, sie haben Aktien und Staatsanleihen. Dann erben sie meistens noch etwas. Sie haben also neben ihrem Einkommen aus Berufsarbeit ein ständig wachsendes, zweites Einkommen aus Vermögen (Mieten, Zinsen...). Diese vielen kleinen Millionäre sind der Öffentlichkeit namentlich weithin unbekannt. Sie bildet den anonymen Reichtumsbauch der deutschen Gesellschaft. Er wird von politischen Ideologen und Strategen als "neue Mitte"bezeichnet. Er hat seine öffentliche Vertretung in den etablierten Parteien einschließlich der Grünen, aber auch in den meisten Medien und im öffentlichen Kulturbetrieb.

Die "Millionäre"sind aber nicht so einheitlich, wie es die übliche Vermögensstatistik erscheinen lässt. Die wesentliche Gruppe innerhalb der "Millionäre"sind diejenigen, die die bestimmenden Anteilseigner der mehreren hunderttausend Aktiengesellschaften und GmbHs sind. Die also über Investitionen, Produkte, Arbeitsplätze entscheiden und damit ihr Vermögen und Einkommen bestreiten. Das sind vom selbständigen Installateur und mittelständischen Unternehmer bis zum Großaktionär bei Karstadt und DaimlerChrysler alle, die über Produktiv- und Zugriffsvermögen verfügen. Und dann gibt es, vereinfacht gesagt, neben den "Millionären"noch die "Milliardäre". Man findet sie in den bekannten Listen der "500 reichsten Menschen der Welt" oder der "500 reichsten Deutschen": die Albrechts, Ottos, Beisheims, Klattens, Oppenheims... Aber die Angaben sind weder hinsichtlich der Namen noch der Höhe des Vermögens vollständig.

Nicht nur die üblichen "Armen" sind arm

Dagegen ist die Armut vergleichsweise gut sichtbar, jedenfalls statistisch. Die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld und die Höhe ihrer "Einkommen" sind ziemlich gut erfasst. Allerdings definiere ich Armut nicht einfach nach der Höhe des (Nicht-)Einkommens und (Nicht-)Vermögens, sondern nach dem Anteil am gesellschaftlich vorhandenen Reichtum und nach der Teilhabe an den vorhandenen Lebensmöglichkeiten oder eben nach der Aussperrung davon: Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, Erholung, Wohnung, Ernährung, Mitsprache in der Gemeinschaft und in der Politik... Das bedeutet, dass nicht nur die üblichen "Armen" arm sind, also die Bettler, Arbeitslosen- und Sozialgeldempfänger, sondern auch die Niedriglöhner und die "working poor", also diejenigen, die zwar Arbeit haben, aber trotzdem arm sind.

Genau und wissenschaftlich gesehen, sind aber auch die abhängig Beschäftigten bei uns arm, die Arbeiter und Angestellten: Nicht nur deshalb, weil weltweit im Kapitalismus, angefangen bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den USA, ihr Anteil am erarbeiteten Gesamteinkommen fällt bzw. stagniert, sondern weil sie statusmäßig und gesetzlich weniger wert sind als die Eigentümer der Banken und Unternehmen und deshalb einen qualitativ geringeren Anteil am Volkseinkommen erhalten. In jeder Gesellschaft, in der wie in Deutschland das Recht auf Privateigentum verfassungsmäßig garantiert ist, das Recht auf Arbeit aber nicht, reproduziert sich deshalb diese Form der Armut.

Armut und Reichtum entstehen nicht dadurch, dass Leistung belohnt würde

Können Sie uns darlegen, wie Armut und Reichtum überhaupt entstehen? Und können Sie erklären, warum über diese Ursachen nicht öffentlich debattiert wird? Damit zusammenhängend: Gibt es für die unteren Schichten ein Phänomen, das man grob als "Verlust ihrer Geschichte" bezeichnen kann: d.h. dass ihnen die Ahnung der objektiv vorhandenen sozialen Gegensätze abhanden kommt und die sozialen Gegensätze verinnerlicht werden, so dass - vermittelt über die Medien mit den Talk-, Reality-Shows als Spitze des Eisbergs - die Selbstwahrnehmung eher die eines "Losers" ist, der seine soziale Situation selbst verschuldet hat, als eines Menschen, der seine soziale Stellung als Produkt einer Klassengesellschaft versteht? Können sie Aussagen darüber machen, wie Arm und Reich sich wechselseitig sehen bzw. welches Selbstbild sie haben?

Werner Rügemer: Armut und Reichtum entstehen nicht etwa dadurch, dass Leistung belohnt würde, gute Arbeitsleistung also gut und schlechte Arbeitsleistung also schlecht belohnt würde; so dass also der Unterschied zwischen arm und reich durch unterschiedlich gute Leistung entstünde. Es wird zwar ständig von "Leistung muss sich wieder lohnen"geredet, und die Löhne und Gehälter und deren unterschiedliche Eingruppierungen und Tarife scheinen leistungsmäßig genau bestimmt. Die meisten Leute denken, vor allem auch Arbeiter und Gewerkschafter, dass bei Lohn- und Gehaltsgruppen zwar komplizierte, aber doch objektive Kriterien zugrundeliegen. Aber das ist einfach Unsinn.

Es ist eine banale und altbekannte Tatsache, dass im kapitalistischen Berufsleben Frauen in der Regel für dieselbe Leistung einen niedrigeren Lohn erhalten. Aber auch dieselbe Leistung von Männern wird in Ostdeutschland schon niedriger entlohnt als in Westdeutschland, und noch niedriger in Ungarn, und noch niedriger in Malaysia und noch niedriger in einer chinesischen Freiwirtschaftszone usw. Für den kapitalistischen Unternehmer, der ja rechtlich und ansehensmäßig einen höheren Wert hat als sein Angestellter, rangiert dieser Angestellte im wesentlichen unter "Kosten", erst an zweiter oder dritter Stelle als Mensch, Familienvater, Staatsbürger usw. Wenn der Unternehmer Kosten einsparen kann, dann tut er das. Er kann das tun, je weniger ihm "seine"Beschäftigten Widerstand entgegenbringen können. Wenn die Beschäftigten keinen Widerstand entgegenbringen, sinkt der Lohn immer weiter, im Extremfall bis auf Null.

Gewerkschaften nicht mehr ernst genommen

Nur so erklärt sich, dass innerhalb desselben westdeutschen oder europäischen Unternehmens ganz unterschiedliche Löhne und Gehälter gezahlt werden: Auf der einen Seite stehen die angestammten Facharbeiter im Heimatstandort mit ihren hohen Gehältern und übertariflichen Leistungen, deren Sockel noch aus der Zeit stammt, als die Gewerkschaften als Verhandlungspartner relativ ernst genommen wurden. Auf der anderen Seite stehen die Kinder in Indien und die kasernierten Frauen in Malaysia, die in Subunternehmen für ein Hunderstel oder Zwanzigstel des deutschen Facharbeiterlohns 12 Stunden am Tag arbeiten. Dazwischen liegen Löhne und Gehälter in jeder denkbaren Höhe. Sie richten sich ganz einfach nach den jeweiligen Kräfteverhältnissen in dem jeweiligen Land, der jeweiligen Region, der jeweiligen Branche.

Lohn und Gehalt sind also abhängig von der Stärke und Schwäche der beiden Seiten Arbeit und Kapital. Da müssen die Personal- und Tarifexperten in den Unternehmen gar nicht viel rechnen: Man drückt die Löhne und Gehälter auf das jeweils niedrigstmögliche Niveau. Um es an einem extremen Beispiel zu verdeutlichen: Im Nationalsozialismus wurden deutsche männliche Arbeiter bezahlt wie vorher, Frauen erhielten ebenfalls dasselbe wie vorher, aber natürlich weniger als die Männer; allerdings setzten Unternehmen und faschistischer Staat einen Lohnstopp durch. Fremdarbeiter aus dem "zivilisierten" Ausland wie Frankreich und Belgien erhielten weniger als die deutschen Arbeiter, sie erhielten aber einen Lohn mit Anteilen für Rente und medizinische Betreuung. Fremdarbeiter aus den als unzivilisiert betrachteten Staaten wie Russland erhielten ein Taschengeld. Die Sklavenarbeiter aus den KZs erhielten gar nichts und wurden durch Arbeit vernichtet, an die SS entrichteten die Unternehmen eine tägliche Verwaltungsgebühr pro Sklavenarbeiter.

Unter diesen Bedingungen der Verteilung der erarbeiteten Werte können natürlich diejenigen besonders "erfolgreich" zugreifen, die besonders privilegiert sind und die ich noch nicht genannt habe: erstens die Vorstände und Geschäftsführer der Kapitalgesellschaften (Aktiengesellschaften, GmbHs u.ä.), zweitens, noch eine wesentliche Stufe darüber, die Eigentümer der Unternehmen, und hier wieder, an der Spitze, die Mehrheitseigentümer. Um das kurz an einem Beispiel zu verdeutlichen: Vor Gericht und in der Öffentlichkeit wurde darüber gestritten, ob die ungefähr 110 Millionen Euro für Vorstand und Topmanagement von Mannesmann "zuviel" gewesen seien, die diese etwa 20 Personen bekommen hatten, damit sie der Übernahme durch den britischen Konzern Vodafone zustimmen. Dabei blieb ganz außer Betracht, dass der Mannesmann-Mehrheitseigentümer Hutchison Whampoa aus Hongkong, der diese Vergünstigungen wesentlich mitangestoßen hatte, durch die Übernahme etwa 8 Milliarden Euro Gewinn machte.

Wenn der Vorsitzende der größten Einzelgewerkschaft der Welt, Herr Zwickel von der IG Metall, als langjähriges Mitglied im Aufsichtsrat von Mannesmann den Übernahmevorgang nicht durchschaut, die in Aussicht genommenen Entlassungen öffentlich nicht thematisiert und den korruptiven Vergünstigungen nicht widerspricht, so zeigt das: Selbst eine als links oder radikal bezeichnete Gewerkschaft hat keine Ahnung von den wirklichen Macht- und Gewinnverhältnissen. Sie will auch keine Ahnung haben, denn auch nachträglich wurde die Mannesmann-Übernahme in der IG Metall nicht kritisch und analytisch aufgearbeitet.

Betäubungs- und Fluchtwege ausgeweitet

Wenn dies schon bei dieser Gewerkschaft so ist, so kann man sich vorstellen, wie es bei einem normal verbildeten "Arbeitnehmer" und Mediennutzer aussieht. Die abhängig Beschäftigten und Unbeschäftigten, von den Großmedien freundlich und nachhaltig überschüttet, von den "Volksparteien"und den Großkirchen unterstützt, übernehmen die öffentliche Darstellung der Gewinner und Reichen: "Wir müssen das tun, um wenigstens so viele Arbeitsplätze hier zu halten, wie unter den harten Bedingungen des internationalen Standortwettbewerbs möglich ist." Die Verlierer und Getäuschten kriechen in die Seelenfalten der sich als Opfer darstellenden Gewinner und leiden mit. Vermutlich leiden nicht alle und hundertprozentig mit. Aber Zweifel, Widersprüche können nicht hochkommen, nicht wirksam werden, weil ihnen die dazu notwendigen Foren (Gespräch im Familien- und Freundeskreis, politische Treffen, Literatur, Medien) weitgehend fehlen.

Gleichzeitig werden die Betäubungs- und Fluchtwege ausgeweitet, "demokratisiert", modernisiert, professionell hochgerüstet: Aufwendig gemachte Pornographie wird zum öffentlich legitimierten Routine- und Massenphänomen, die Sexualität war noch nie so "frei"(und pervertiert) wie heute, ein vielfältiges und hochqualifiziert gemachtes Medienangebot (die hochqualifizierte Machart ist kein Widerspruch zum Verdummungseffekt, im Gegenteil), billige Massenurlaube an warmen Meeresstränden, Sportarten und -geräte für vielfältige Zwecke und an immer mehr verschiedenen Orten, Höhen- und Tiefenlagen, mit den verschiedensten Gefahrengraden usw. usf.

Unterschiedliche "soziale Durchlässigkeit"

Wie sieht es in Deutschland mit der "sozialen Durchlässigkeit"aus? Gibt es heute in Deutschland relevante Chancen, seine soziale Schicht zu wechseln? Und können Sie eine Einschätzung geben, wie die Entwicklung von Armut und Reichtum sich allgemein fortsetzen wird?

Werner Rügemer: Die "soziale Durchlässigkeit" ist sehr unterschiedlich. Die traditionell unterprivilegierten Schichten werden immer mehr abgehängt. Das zeigt sich in den trostlosen Hauptschulen, in den immer weiter fallenden Anteilen der Arbeiterkinder beim Hochschulbesuch, es zeigt sich an der Ausweitung der auf Unterhaltung und Verdummung zielenden Massenmedien. Wer aus einem traditionellen industriellen Beruf heraus arbeitslos wird, kann kaum höhersteigen.

Heftige Bewegung in den Mittelschichten

In den Mittelschichten ist dagegen heftige Bewegung, sowohl nach oben wie nach unten. Verbunden mit charakterlichem und moralischem Opportunismus kann ein Akademiker als Betriebswirt, Jurist, Journalist in Unternehmen, Banken, Parteien, Behörden, Agenturen schnell aufsteigen und 5 bis 10.000 Euro im Monat verdienen. Die "new economy" hat gezeigt, wie tausende agiler und blendungsbereiter Youngsters Unternehmensfassaden hochziehen und dabei Millionen verdienen können. Freilich stützen dabei auch eine ganze Menge ab. Aber auch seriösere Akademiker sind heute nicht vor Dauerarbeitslosigkeit geschützt. Und viele hochqualifizierte Hochschulabsolventen quälen sich jahrelang mit unbezahlten Praktika durchs Leben.

Diese heftigen Auf- und Abstiege verlangsamen sich, je höher man in der sozialen und Reichtumshierarchie kommt. Bei den "armen"und kleinen Millionären kann es zum Teil sehr heftige Auf- und Abstiege geben. Beispielsweise war es keine Seltenheit, dass sie beim Platzen der "New-Economy-Blase" hunderttausende und Millionen Euro von einem auf den anderen Monat verloren haben. Ich kenne selbst ganz brave Gymnasiallehrer (Deutsch, Geschichte, Latein), die auf einen Schlag 250.000 Euro verloren haben. Aber da sie meist ein gutes Polster haben, ein gutes regelmäßiges Einkommen, ein Eigenheim usw., sind solche Abstiege nicht existenzgefährdend und bleiben meist unsichtbar.

Auf der obersten Ebene (die Albrechts, Beisheims, Ottos, Klattens...) bleiben die Verhältnisse so gut wie unbewegt. Ob einer von ihnen im nächsten Jahr eine Milliarde mehr oder weniger hat, ändert nichts. Die Machtverhältnisse, die meist verdeckten Einflüsse auf Staat, Parteien, Medien und Unternehmensentscheidungen bleiben. Wo sich hier wirklich etwas verschiebt, wird öffentlich bisher nicht wahrgenommen. Vorreiter für prekäre industrielle Arbeitsverhältnisse, verbunden mit hohen Kapitalrenditen, waren in Deutschland zunächst US-Unternehmen, z.B. United Parcel Service (UPS) und WalMart. Änderungen in den Eigentumsverhältnissen auf oberster Ebene entwickeln sich aber durch meist anonyme bzw. anonymisierte Finanzinvestoren vor allem aus den USA und England, aus Saudi-Arabien usw., die seit einem Jahrzehnt relativ lautlos eindringen und überall in Europa profitable Unternehmen aufkaufen oder sich an ihnen beteiligen. Die Namen dieser Investorengruppen wie Investcorp, Blackstone, KKR sagen der Öffentlichkeit nichts.

Globaler "Hartz IV-Kapitalismus"

Wie müsste das politische Instrumentarium beschaffen sein, um diese Entwicklung zu kompensieren oder gar umzukehren? Wird in Deutschland nicht genau das Gegenteil davon gemacht? Man hat den Eindruck, das jenseits aller Rhetorik Deutschland immer noch ein gemischtes Wirtschaftssystem besitzt, nur dass sich mit der Ära Schröder dessen Komponenten gedreht haben: Keynesianismus nach oben, d.h. großzügige finanzielle Unterstützung für die großen Konzerne und Neo-Liberalismus nach unten, also das Abkappen der sozialen Sicherungssysteme für jene, die bei dieser Entwicklung auf der Strecke bleiben, eine Art Sozialdemokratie für oben anstatt für unten. Aus welchem Kalkül heraus werden Riesenunternehmen und Wohlhabende direkt oder indirekt subventioniert, während der klassische Sozialstaat auf der Strecke bleibt?

Werner Rügemer: Das Vordringen der US-Unternehmen - gegenwärtig sind das 1.800 US-Konzerntöchter in Deutschland mit 800.000 Beschäftigten - und der zuletzt genannten globalen Investorengruppen ist meiner Vermutung nach ein wesentlicher Grund dafür, dass die bisherige "soziale Marktwirtschaft" nun abgebaut oder zerschlagen werden soll. Das ist in den anderen EU-Staaten ähnlich. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder ist seit langem mit einem der mächtigsten Banker der Welt, Sanford Weill, Chef der Citigroup, befreundet. Diese Bank gehört zu den großen Organisatoren eines globalen "Hartz IV-Kapitalismus": Der starke Staat organisiert die systematische Bereicherung der einen ebenso mit wie die systematische Verarmung der anderen. Politisch stützt er sich auf die verschiedenen Sektoren der "neuen Mitte".

Dieser Staat soll auch dafür sorgen, jenseits der bisherigen bürgerlichen Demokratie, dass diese Entwicklung machtmäßig abgesichert wird. Mit "Sandy", wie Schröder seinen Freund nennen darf, frühstückt er in New York, von ihm holt er sich Rat. Auf ihn hielt er im November 2003 die Laudatio, als Weill den "Global Leadership Award"des American Institute for Contemporary German Studies erhielt. Anschließend warb der deutsche Bundeskanzler an der Wallstreet bei einer Versammlung der wichtigsten US-amerikanischen Banker für die "Agenda 2010" und kehrte dann rechtzeitig zur Abstimmung über "Hartz IV"im Bundestag zurück.

Traurig lähmender Horizont

Da nun aber die Agenda 2010 auf einen Beschluß der EU zurückgeht und damit die EU nicht nur wie bisher "wettbewerbsfähig"gemacht, sondern "die wettbewerbsfähigste Region der Welt"werden soll, kommt die neue, "amerikanische" Methode der Verteilung des vorhandenen gesellschaftlichen Ertrags in einer Zangenbewegung nach Europa. Sie geht nicht nur von den US-Unternehmen direkt aus, sondern die europäischen Eliten in Staat, Parteien, Unternehmen und Medien ergreifen mehrheitlich gerne und vielfach sogar mit einem Gefühl endlich errungener Freiheit die Gelegenheit, im Schutze des großen Bruders von jenseits des Atlantiks und von ihm lernend das zu praktizieren, was man "schon immer" praktizieren wollte. In Deutschland hatte man die neoliberale Kapital-Freiheit eigentlich nur während des Nationalsozialismus richtig ausleben können - damals aber mit dem schlechten Beigeschmack eines "verbrecherischen Regimes", wie es jedenfalls "im Ausland" gesehen wurde.

Wie diese Entwicklung zu kompensieren oder gar umzukehren ist? Sie hat sich unter der Decke der "sozialen Marktwirtschaft"oder des "rheinischen Kapitalismus" schon seit Jahrzehnten angebahnt. Die demokratische und soziale Fassade hat verhindert, dass die Entwicklung öffentlich und in ihrer Tiefe wahrgenommen wurde. Vor allem die abhängig Beschäftigten - jedenfalls männliche, qualifizierte Kerngruppen - haben sich nach dem 2. Weltkrieg mit einigen Zugeständnissen befrieden lassen. Um heute einen nachhaltigen Widerstand mit der Perspektive jenseits dieses zerstörerischen und traurig-lärmenden Horizonts entwickeln zu können, muss unter anderem auch diese lange, verborgene Vorgeschichte der jetzigen Zerstörung des Sozialstaats rekonstruiert werden. Übergreifende Interessen der verschiedenen "Armen"-Gruppen müssen herausgearbeitet werden. Das Proletariat kommt nicht wieder, aber die Proletarietät. Aber anzunehmen, dass die Proletarisierten die geborenen Vorkämpfer einer neuen gerechten Ordnung sein können, dieser Täuschung dürfen wir bzw. diejenigen, die dafür eintreten, nicht noch einmal erliegen.