Junge Menschen neigen immer mehr zum Perfektionismus

Bild: Andri Koolme/CC BY-2.0

Nach einer Untersuchung nimmt in den letzten 20 Jahren der von außen gesetzte Druck zu, Soziale Netzwerke und permanentes Optimieren, Vergleichen und Ranking dürften als Verstärker wirken

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Jahre der 68er Bewegung sind lange her. Aus ihr folgte die Hippie-, Anarchisten- und Alternativengeneration, die aus der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Zwängen und Normen aussteigen wollte. Schnell folgte darauf aber die Yuppie-Generation, die wieder gesellschaftlichen Erfolg und Reichtum wollte, aber die Liberalität der Hippies teilweise fortsetzte. Daraus entstand die "kalifornische Ideologie", die uns weiterhin mit ihren IT- und Online-Produkten und ihrer Lebensweise beherrscht. Mittlerweile ist längst klar geworden, dass die Lässigkeit der 1970er Jahre in eine Kapitalismus-affine Superkonformität der Selbstoptimierung übergegangen ist, die nach Perfektion strebt, verstärkt durch überall präsentes Ranking und Scoring, Selbstdarstellung, Vergleiche und Kommentare/Bewertungen. Die so genannten Sozialen Netzwerke waren wahrscheinlich die ultimative Falle.

Thomas Curran vom Centre for Motivation and Health Behaviour Change der University of Bath und Andrew P. Hill von der School of Sport an der York St John University wollen in einer Studie, veröffentlicht im Psychological Bulletin der APA, herausgefunden haben, dass heute junge Menschen sehr viel stärker auf Perfektionismus ausgerichtet sind, als dies bei denen in vorhergehenden Generationen der Fall war. Die britischen Psychologen verbinden eben dies mit der in den 1980er sich durchsetzenden neoliberalen Ideologie, die mit einem konkurrierenden Individualismus einhergeht, der zudem von den Eltern gefördert wurde, die immer mehr von ihren Kindern verlangten.

Untersucht wurden Daten von fast 42.000 Studenten aus den USA, Kanada und Großbritannien, die sich zwischen 1989 und 2016 dem Test "Multidimensional Perfectionism Scale" unterzogen haben, um zu sehen, ob sich die kulturellen Veränderungen in der Persönlichkeit der jungen Menschen niederschlagen. Der Test besteht aus 35 Fragen mit einer Skala von 1 (sehr ablehnend) bis 5 (sehr zustimmend), deren Beantwortung soll Ausschluss darüber geben, ob und wie sehr die Menschen Perfektionismus anstreben. Es handelt sich um Fragen wie diese: "My parents set very high standards for me", "As a child, I was punished for doing things less than perfectly", "If I do not set the highest standards for myself, I am likely to end up a second-rate person" oder "I am a neat person".

Mit dem Test werden drei Arten des Perfektionismus gemessen: der "selbstorientierte" Perfektionismus (exzessive Erwartungen an sich selbst, perfekt zu sein), der "sozial vorgeschriebene" Perfektionismus (Wahrnehmung von anderen ausgehenden exzessiven Erwartungen, perfekt zu sein) und "auf den Anderen ausgerichteten" Perfektionismus (unrealistische Erwartungen an andere).

Viele Untersuchungen hätten bereits die negativen Folgen des Perfektionismus festgestellt. So sei der selbstorientierte Perfektionismus besonders komplex und verbunden mit psychopathologischen Folgen wie Angst, depressiven Tendenzen und Suizidgedanken. Depressive Stimmungen und Suizidgedanken treten auch beim sozial vorgeschriebenen Perfektionismus auf, aber deutlich geringer. Der auf den Anderen ausgerichtete Perfektionismus sei am wenigsten untersucht, würde aber mit einem geringeren Altruismus und einer höheren Neigung zusammengehen, andere zu blamieren, die den Erwartungen nicht entsprechen.

Druck von anderen wächst

Nach Auswertung der Testergebnisse stellten die Wissenschaftler fest, dass im Beobachtungszeitraum alle Perfektionismusarten zugenommen haben. Allen voran die Variante des sozial vorgeschriebenen Perfektionismus, die um 33 Prozent zugenommen hat, gefolgt vom auf den Anderen ausgerichteten Perfektionismus, der um 16 Prozent angestiegen ist. Der selbstorientierte Perfektionismus ist hingegen "nur" um 10 Prozent mehr geworden.

Das macht deutlich, was auch Thomas Curran vermutet, dass die Außensteuerung zugenommen hat, vermutlich dank der Sozialen Netzwerke, die optimierende Vergleiche und gegenseitig Leistungskontrolle ermöglichen. Eigentlich ist man dieser Kontrolle ausgesetzt und muss souverän genug sein, sich dieser ebenso wie dem Optimierungsdruck entziehen zu können. Schließlich werden alle Menschen von Anfang an und besonders ab der Schule über die Universität bis zur Arbeit permanent beurteilt und eingeordnet. Als höchster Wert gilt das, was ökonomischen Erfolg ermöglicht, weswegen Einkommen und Statussymbole so wichtig werden.

Die Wissenschaftler verweisen auf andere Studien, nach denen in den letzten Jahren die Neigung oder der Zwang zugenommen habe, Vergleiche über den sozialen Aufstieg anzustellen, eine beträchtliche Angst um den eigenen Status zu haben und einen materialistischen Lebensstil mit entsprechenden Statussymbolen als Mittel zur Perfektionierung des Lebens im Vergleich zu anderen zu übernehmen. Dazu gehört auch die Optimierung oder Perfektionierung des Körpers, seines Aussehens und seiner Leistung, aber auch die Optimierung und Perfektionierung der eigenen Person in den Sozialen Netzwerken. Der Hang zur Perfektionierung bringe nicht nur Erfolge, sondern vor allem wachsende Ängste vor dem Scheitern mit sich. So steige auch die Zahl derjenigen mit Essstörungen oder mit Dysmorphophobie an.

Macht Perfektionismus krank?

So vergleichen die Studenten in den USA obsessiv ihre Noten und erwarten immer mehr Schüler, einen Hochschulabschluss zu machen, dabei nimmt die Kluft zwischen denen, die einen solchen Abschluss erwarten, und denen, die einen solchen erreichen, weiter zu, was die Erwartungen unrealistisch macht. 80 Prozent der Abgänger von Highschools erwarten jetzt, einen Hochschulabschluss zu machen, in 1970er Jahren machte dies nur die Hälfte. Aber wer heute in den USA keinen Hochschulabschluss macht, gehört zu den Losern.

Für Curran ist das das Ergebnis der Meritokratie, die die neoliberale Ideologie mit sich bringt: "Meritokratie verursacht ein starkes Bedürfnis bei den jungen Menschen, im modernen Leben voranzukommen, gut zu funktionieren und Erfolge zu erzielen", so Curran. "Junge Menschen reagieren darauf, indem sie zunehmend unrealistische Bildungs- und Berufserwartungen für sich selbst berichten. Der Perfektionismus steigt bei den Millennials an." Als Millennials gelten die Menschen, die zwischen Mitte der 1980er bis in die frühen 2000er Jahre geboren wurden.

Nach den Ergebnissen der Untersuchung haben junge Menschen heute höhere Erwartungen an sich und an andere als frühere Generationen. Sie konkurrieren gegeneinander, um angesichts des gesellschaftlichen Drucks erfolgreich zu sein und glauben, Perfektionismus sei notwendig, um persönlich, sozial und ökonomisch auf der sicheren Seite zu stehen. Das hat Folgen. In der Studie verweisen die Autoren darauf, dass nach Erhebungen Depressionen, Angsterkrankungen und Suizidneigungen bei jungen Menschen in den drei Ländern in den letzten 10 Jahren ebenso wie Einsamkeitsgefühle zugenommen haben. Sie vermuten naheliegenderweise, dass es einen Zusammenhang zwischen zunehmendem Perfektionismus und anwachsender Psychopathologie gibt.