Proteste und Unruhen in Tunesien

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Sieben Jahre nach dem Beginn des voreilig ausgerufenen "arabischen Frühlings" kommt es erneut zu Turbulenzen

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Über 200 Festnahmen, 49 verletzte Polizisten und 55 beschädigte Polizeiwagen lautet die Bilanz der letzten Tage, die der tunesische Innenminister Khelifa Chibai zieht. Er vermutet, dass die Proteste organisiert sind. Sie hätten nichts mit friedlichen Demonstrationen zu tun, sondern seien auf Gewalt ausgerichtet.

Der Bericht vom meist gut unterrichteten Le Monde-Korrespondenten Frédéric Bobin über die Turbulenzen der letzten Tage in Tunesien erwähnt zwar ebenfalls, dass es zu Ausschreitungen und Plünderungen kam, aber er beantwortet die Frage, warum es genau sieben Jahre nach den Aufständen gegen den Autokraten Ben Ali wieder zu Protesten kommt, mit sozialen und wirtschaftlichen Erklärungen. Die Gewalt der Demonstranten sei Resultat einer tiefen Frustration und Wut.

Weil die Staatsschulden stark angewachsen sind, reagierte Tunesiens Regierung mit Steuererhöhungen; besonders schmerzhaft für die Ärmeren auch mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer; hinzu kommen die Inflationsrate von über 6 %, die Abwertung der Landeswährung Dinar, die binnen zwei Jahren ein Viertel ihres Wertes gegenüber dem Euro verloren habe, eine Arbeitslosenquote von 15% und, wie Bobin hinzufügt, von 30 Prozent bei den Hochschulabsolventen; die Armutsquote im ärmeren Landesinneren erreicht Werte zwischen 28 und 39 Prozent - fertig ist die Mixtur für Unruhen, die beim nächsten Anlass ausbrechen oder eskalieren kann.

Rasche Verbreitung an mehreren Orten

Erstaunlich und neu sei die Geschwindigkeit, mit der sich die Proteste verbreiteten, so Le Monde: "Sie (die Unruhen, Einf. d. A.) haben quasi gleichzeitig Viertel von Tunis - Ettadhamen, Al-Ouardia - und Orte in der Nähe der Hauptstadt (Tebourba) erreicht wie auch Orte in den Gouvernaten im Landesinneren (Kasserine, Sidi Bouzid, Gafsa) und sogar an der Küste (Gabès, Nabeul)."

In Terboubra, etwa 30 Kilometer westlich der Hauptstadt, kam ein Mann unter noch ungeklärten Umständen ums Leben. Seine Beerdigung war einem Bericht von Jeune Afrique zufolge Auslöser von gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften, die mit Tränengas vorgingen. Der Polizei wird vonseiten der Demonstranten vorgeworfen, dass sie schuld am Tod des Mannes sei. Der Innenminister dementiert.

In mindestens 12 Städten hat es am Montag Proteste gegeben, so der Bericht von Jeune Afrique. Am Dienstag verschärften sich die "sozialen Turbulenzen" an einigen Orten mit Plünderungen. Im Parlament wurde von der linken Opposition der Vorschlag eingebracht, das Gesetz mit den Steuererhöhungen zurückzunehmen. Ministerpräsident Youssef Chahed widersprach. Die Tunesier sollten Geduld haben. Das Jahr 2018 werde das letzte Jahr sein, wo sie den Gürtel enger schnallen müssten. Es gebe positive Anzeichen dafür, dass sich die Situation später verbessern werde.

Ob die Bevölkerung solche Beteuerungen plausibel findet? Die Frage ist, wie die Verbindung der Proteste mit der Bevölkerung aussieht. Das wird in den nächsten Tagen und Wochen deutlich werden.

Spekulationen über Drahtzieher

Sehr schnell tauchten Spekulationen darüber auf, dass die Unruhen im Hintergrund organisiert oder "orchestriert" werden. Der eingangs genannte Innenminister Chibani geht von einer "Kampagne" aus, die auf Gewalt ausgerichtet ist. Das zeige sich daran, dass die Aktionen nur nachts passieren würden, tagsüber sei es nämlich ruhig, wird Chibani zitiert. Er ist der Auffassung, dass die "Ausschreitungen, Diebstähle und Vandalismen" organisiert seien, durch eine "Kampagne über soziale Netzwerke".

Die islamistische Partei Ennahda, Mitglied der Regierungskoalition, vertritt dagegen die Auffassung, dass die anderen Parteien hinter den Unruhen stecken würden, um sie gegen die Regierung und Ennahda zu instrumentalisieren.

Das regierungskritische Internetportal Kapitalis spekuliert über ein Komplott, in dessen Zentrum angeblich ein Geschäftsmann steht, der von Korruptionsskandalen umgeben ist: Chafik Jarraya. Er wird gleichermaßen mit sozialen Bewegungen, Linken und Islamisten in Verbindung gebracht.