"Größtenteils nutzlos und potenziell schädlich"

Ein Interview über den problematischen Erfolg der Antidepressiva

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Michael P. Hengartner ist promovierter Psychologe und forscht an der Züricher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Von 2009 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Seit 2015 ist er auch Dozent für Psychosoziale Medizin an der Universität Zürich und für Psychopathologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seine Forschungsschwerpunkte sind klinische Psychologie, Sozialpsychiatrie und die Verbreitung (Epidemiologie) psychischer Störungen.

Wichtiger Hinweis des Autors: Das Absetzen von Antidepressiva kann zu Entzugserscheinungen oder der Verschlimmerung bestimmter Symptome führen. Bitte unternehmen Sie keine solchen Schritte ohne die Betreuung einer erfahrenen Vertrauensperson.

English version of the interview.

Herr Dr. Hengartner, warum haben Sie sich mit der Forschung zu Antidepressiva beschäftigt?

Michael P. Hengartner: Hier muss ich etwas ausholen: Als Forscher interessierte ich mich schon früh für die Methoden- und Wissenschaftslehre. Wie zuverlässig ist die Forschung insgesamt? Aber auch speziell die Forschung in der Psychologie oder Psychiatrie? Zudem befasste ich mich viel mit Statistik und der Art und Weise, wie Forschende die Statistik mitunter missbrauchen und fehlinterpretieren.

Natürlich hatten wir inzwischen auch die Replikationskrise in der Psychologie: Warum lassen sich so viele Studienergebnisse nicht wiederholen? Zudem scheint es fast überall einen "publication bias" zu geben. Das heißt, positive Ergebnisse werden geschönt und publiziert, negative Befunde verschwinden aber in der Schublade. Viele Forscher versuchen, ihre Fachrichtung zu verkaufen - und sind darum voreingenommen.

Ich schaute mir auch Forschung zur Wirksamkeit von Psychotherapie an. Dann stieß ich auf die kritischen Arbeiten zur Wirksamkeit von Antidepressiva der britischen Psychiater David Healy und Joanna Moncrieff, des amerikanischen Psychologen Irving Kirsch oder des dänischen Arztes und Direktors der nördlichen Cochrane-Zenters Peter Gøtzsche. Ich war schockiert über das Ausmaß methodischer Verzerrungen in diesen Antidepressiva-Studien.

In Ihrem neueren Übersichtsartikel kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Antidepressiva - konkret geht es um die gängigsten Medikamente vom Typ SSRI und SNRI - größtenteils nutzlos und potenziell schädlich sind. Können Sie das kurz erklären?

Michael P. Hengartner: Das Hauptproblem von Studien zu Antidepressiva ist, dass sie vom Entwurf an falsch sind, auf Englisch sagt man: "flawed by design." Schon bevor die eigentlichen Beobachtungen beginnen, ist alles darauf ausgerichtet, dass man am Ende möglichst einen signifikanten Effekt zugunsten der Medikamente findet. Dabei sollten randomisierte und Placebo-kontrollierte Studien eigentlich solche Verzerrungen vermeiden.

In der Praxis kann davon aber oft keine Rede sein. So werden etwa vor der Hauptuntersuchung schon Teilnehmer ausgeschlossen, die stark auf ein Placebo, also eine wirkungslose Kontrollsubstanz, reagieren. Warum tut man das? Weil so die Wahrscheinlichkeit höher wird, dass das Medikament später eine stärkere Wirksamkeit zeigt als das Placebo.

Michael P. Hengartner

Behandlung von Entzugserscheinungen

Wie muss man sich das in der Praxis vorstellen?

Michael P. Hengartner: Patienten mit einer diagnostizierten Depression bekommen oft schon ein anderes Medikament verschrieben. Um die Studienergebnisse nicht durch solche Substanzen zu verfälschen, gibt man ihnen wenige Tage vor Beginn der randomisierten Studie erst einmal ein Placebo. Dies wird als Placebo-Washout bezeichnet. Es heißt, dass damit das alte Medikament aus dem Körper gewaschen werden soll. Wer dann schon eine Verbesserung zeigt, also stark auf das Placebo reagiert, der wird aus der späteren Untersuchung ausgeschlossen.

Ein anderes Problem ist, dass durch das Absetzen des alten Medikaments Entzugserscheinungen auftreten können. Denken Sie etwa an Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Ängstlichkeit oder Schlafprobleme. Die wenigen Tage Placebo-Washout vor der Studie sind oftmals zu kurz, als dass diese Symptome vor Studienbeginn bereits abgeklungen wären. Nun muss man wissen, dass das auch Symptome sind, mit denen man die Schwere depressiver Störungen misst.

Das heißt, manche Patienten in der Placebo-Gruppe verzeichnen zu Beginn der Hauptuntersuchung einen höheren Depressionswert, der aber durch den Medikamentenentzug ausgelöst wurde. Bei Personen in der Wirkstoff-Gruppe wiederum tritt kurz nach Beginn der Studie eine deutliche Verbesserung ein, denn die Vergabe von Antidepressiva beendet das Entzugssyndrom unmittelbar. Wenn in Studien von lediglich 4-6 Wochen in der Antidepressiva-Gruppe eine etwas größere Symptomverbesserung verzeichnet wurde als in der Placebo-Gruppe, könnte das nicht für die Wirkweise des neuen Medikaments sprechen, sondern schlicht für das Abklingen dieser Entzugserscheinungen.

In den Daten lassen sich diese Effekte leider nicht voneinander unterscheiden. Bei manchen Patienten in der Placebo-Gruppe können die Symptome unmittelbar nach dem Absetzen auftreten, also in der Washout-Phase. Bei anderen geschieht das erst verzögert, während der eigentlichen Untersuchung. Wir wissen aus Studien, dass 10 bis 50 Prozent der Patienten solche Entzugserscheinungen haben können.

Ein ähnliches Problem ist, dass Patienten in manchen Studien Beruhigungsmittel verschrieben werden, etwa Benzodiazepine. Mit diesen dürfen die Ärzte Unruhe oder Schlaflosigkeit, was typische Nebenwirkungen der Antidepressiva sind, nach eigenem Gutdünken behandeln. Der Effekt, der am Ende dem neuen Medikament zugeschrieben wird, könnte also schlicht an der Gabe von Beruhigungsmitteln liegen.