Bürgereinkommen in Italien - eine repressive Armenfürsorge

Was steckt hinter dem Vorschlag der neuen Regierung? Ein Gespräch mit dem Experten für Grundeinkommen, Ronald Blaschke

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Regierungsvertrag zwischen den beiden Gewinnerparteien 5-Sterne-Bewegung und Lega Nord ist als Programmpunkt auch das im Wahlkampf versprochene Bürgereinkommen festgesetzt. Darüber hat Telepolis mit Ronald Blaschke, dem Mitgründer des Netzwerks Grundeinkommen in Deutschland und des europäischen Netzwerks Unconditional Basic Income Europe (UBIE), gesprochen.

Herr Blaschke, wie lautet denn Ihre Definition von Grundeinkommen?

Ronald Blaschke: Das Grundeinkommen ist ein individuell garantiertes Einkommen in existenz- und teilhabesichernder Höhe, welches allen Menschen ohne eine Bedürftigkeitsprüfung und ohne einen Zwang zur Arbeit oder zu einer Gegenleistung zusteht.

Diese Definition mit den genannten vier Kriterien ist Grundlage der Definition des Grundeinkommens durch eine überwiegende Anzahl der Partnerorganisation von BIEN (Basic Income Earth Network). Sie entspricht ebenso der Definition des europäischen Netzwerks UBIE (Unconditional Basic Income Europe).

Das Netzwerk Grundeinkommen ist Partnerorganisation von BIEN und Mitglied in UBIE. Es kämpft für die Einführung eines so definierten Grundeinkommens. In der Regel wird bei einem Grundeinkommen von einer Leistung ausgegangen, die jeder und jedem von der Wiege bis zur Bahre gewährt wird, wobei altersspezifische Höhen des Grundeinkommens möglich sind.

"Es ist kein Grundeinkommen, sondern das Gegenteil davon"

Was ist demnach das vorgesehene italienische Bürgereinkommen?

Ronald Blaschke: Das Bürgereinkommen für Erwerbsfähige und Rentner, das im Regierungsvertrag beschrieben ist, ist eine Grundsicherung oder Mindestsicherung für bedürftige Staatsbürger, die kein Einkommen oder ein Einkommen unterhalb von 780 Euro haben. Es ist kein Grundeinkommen, sondern das Gegenteil davon.

Warum? Weil es in Italien eine Bedürftigkeitsprüfung geben soll, weil es nicht individuell garantiert ist, einen Zwang zur Arbeit als Gegenleistung beeinhaltet und es auβerdem nicht allen Menschen bedingungslos die Existenz und Teilnahme am öffentlichen Leben sichert?

Ronald Blaschke: Ja, voll und ganz. Es kann, wie im Regierungsvertrag steht, "verwirkt" werden, wenn man keine angebotene Lohnarbeit annimmt. Es ist nur für Bedürftige, auch nur für Staatsbürger, nicht für alle in Italien Lebenden Menschen. Und 780 Euro liegen nicht nur unter der Armutsrisikogrenze für Italien, sondern dürften dort zum Leben und einer Mindestteilhabe an der Gesellschaft nicht ausreichen.

Was ist am italienischen Vorschlag bemerkenswert?

Ronald Blaschke: Dass Italien bestrebt ist, zumindest eine national flächendeckende Grundsicherung einzuführen, auch wenn es schon in bestimmten Regionen niedrige Sozialhilfen gibt.

Denken Sie, dass es machbar und finanzierbar ist? 20% der Gesamtzuweisung des ESF (Europäischer Sozialfonds) sollen ja in ein (Mindest-) Einkommen für Bürgerinnen und Bürger flieβen.

Ronald Blaschke: Ich vermute, das ESF-Mittel nur nutzbar sind, wenn die Transferleistungen mit einer klaren "Aktivierungs"-Strategie verbunden sind, also mit einer klaren Orientierung am Zwang zur Lohnarbeit.

Ist es eine schrittweise Annäherung in Richtung Grundeinkommen?

Ronald Blaschke: Ob die Grundsicherung für Erwerbsfähige und Rentner ein Schritt zum Grundeinkommen ist, kann man bezweifeln. Faktisch ist es genau das Gegenteil eines Grundeinkommens. Gute Schritte wären dagegen eine Grundrente, also ein bedingungslos an alle Altersrentner gezahlter, existenz- und teilhabesichernder Sockel in der Rente. Dieser würde dann durch Erwerbsarbeit erworbene Rentenbeträge erhöht.

Oder ein Kindergrundeinkommen für alle Kinder und Jugendlichen, oder ein Bildungshonorar für alle Studierenden. Diese Schritte hin zu einem Grundeinkommen für alle könnten durch eine steuerliche Umverteilung von oben nach unten unkompliziert finanziert werden.

Solche lebensphasenspezifische Schritte hin zum Grundeinkommen werden in Deutschland diskutiert und gefordert. In einigen europäischen Ländern gibt es bereits Grundrenten, in Deutschland ein Kindergeld für alle Kinder und Jugendlichen.

Italien hat Nachholbedarf

Wäre Italien mit seinem Modell ein Pionierland?

Ronald Blaschke: Italien hat Nachholbedarf in Sachen armutsbekämpfender sozialer Sicherungssysteme. Das ist in Deutschland und anderen Ländern Europas nicht anders, auch wenn dort bestimmte Sozialhilfesysteme flächendeckend ausgebaut sind.

Italien ist aber insofern ein Pionierland, weil eine italienische Abgeordnete in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine Resolution durchsetzen konnte, die pro Grundeinkommen angelegt ist und Wege zum Grundeinkommen aufzeigt.

Die Resolution der Parlamentarischen Versammlung wurde von Nunzia Catalfo (Fünf-Sterne-Bewegung) initiiert. Der Grundeinkommensaktivist aus Österreich, Klaus Sambor, und ich hatten Kontakt mit Nunzia Catalfo. Wir haben mit Kommentaren und Hinweisen auf die Qualifizierung des Entwurfs des Resolutionstextes hingewirkt.

Ist das Grundeinkommen eine Utopie?

Ronald Blaschke: Im Sinne eine Nicht-Ortes (u-topia), also eines nicht Existierenden ja, im Sinne eines Eutopia (eu-topia), eines guten Ortes ebenfalls ja. Eine kleine Randbemerkung: Einige verbreiten die Ansicht, schon Thomas Morus hätte in seinem "Utopia" das Grundeinkommen gefordert. Das stimmt aber nicht.

Wäre ein gesamteuropäisches Grundeinkommen möglich?

Ronald Blaschke: Ja, natürlich. Über zwei Wege: Entweder jedes Land führt einzeln ein Grundeinkommen ein, oder es gibt ein paneuropäisches Grundeinkommen, dass über eine europäische Institution gesichert ist.

Entscheidend ist dabei, dass das Grundeinkommen in jedem Land entsprechend der dortigen Lebenshaltungs- und Teilhabekosten die Existenz und Teilhabe sichert. Die Mindesthöhe müsste die jeweilige nationale Armutsrisikogrenze sein, überprüft anhand eines Warenkorbs, so wie es für alle Mindesteinkommen vom Europäischen Parlament gefordert wird.

Wie kooperiert Deutschland in dieser Hinsicht mit Italien? Gibt es ein internationales Netzwerk?

Ronald Blaschke: Das deutsche Netzwerk Grundeinkommen hatte bereits mehrere persönliche Kontakte zu Mitgliedern von BIN Italia, dem italienischen Netzwerk Grundeinkommen. Wir haben auch bei der Definitionsdebatte im Rahmen von BIEN und bei der Vorbereitung und Organisation der ersten Europäischen Bürgerinitiative Grundeinkommen kooperiert. Vor einigen Tagen war ich in Brixen/Südtirol und habe mit italienischen Grundeinkommensaktivisten diskutiert.

Ist das Grundeinkommen ein globales soziales Recht?

Ronald Blaschke: Globale soziale Rechte sind bedingungslos gewährte Rechte, die jeder Mensch an jedem Lebensort hat: Recht auf Bildung, Kultur, saubere Umwelt, Gesundheitsversorgung, politische Partizipation und soziale Sicherheit usw. Dahinter steht die Idee, dass jeder Mensch das Recht auf globale Freizügigkeit hat. Das Grundeinkommen ist ein Bestandteil globaler sozialer Rechte.