Afrin: Exzessive Gewalt durch türkische Besatzung

Mitglieder der Miliz Faylaq al-Sham, die für die türkische Regierung Afrin "säubert". Propagandabild

Seit der türkischen Militäroperation "Olivenzweig" sind Terror, ethnische Säuberungen und demografische Veränderungen große Probleme in einer der zuvor friedlichsten Zonen Syriens

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Die Situation in Nordsyrien wird auf vielen Konferenzen diskutiert. Kürzlich fand eine Konferenz von Teilen der syrischen Opposition in Ain Isa/Nordsyrien statt, danach startete ein dreitägiges internationales Forum zur demografischen Veränderung und ethnischen Säuberung im Kanton Afrin in Amûdê (Nordsyrien), und vergangene Woche gab es im Europaparlament die 15. Konferenz zur Situation der Kurden in der Türkei und Nordsyrien.

Ethnische Säuberungen in Afrin durch die Türkei

An dem Forum in Amûdê, einer Stadt in dem Gebiet der nordsyrischen Föderation, nahmen 150 international bekannte Akademiker und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Ägypten, den USA, Frankreich, Russland teil, unter anderem auch der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner. Kouchner ist einer der Mitbegründer der internationalen Organisation Ärzte Ohne Grenzen. Organisiert wurde die Konferenz vom Zentrum für strategische Untersuchungen-Rojava (NRLS).

Der irakisch-kurdischen Zeitung Rudaw mit Sitz in Erbil berichtete Abdulkarim Saroxan, ein hochrangiger Beamter aus dem Kanton Cizire, die demographische Veränderung in Afrin finde auf allen Ebenen statt - Leben, Politik, Demografie, Soziales und Natur.

Als Beweis präsentierte man Dokumentationen von den türkischen Angriffen und ihrer Verbündeten auf Afrin. Nezîr Salih vom NRLS berichtete von Angriffen auf die Infrastruktur, Dörfer und Dienstleistungseinrichtungen durch die türkische Armee mit dem Ziel, durch diesen Terror die Bevölkerung entweder zu vertreiben oder zu assimilieren.

Kurdischen Flüchtlingen würde die Rückkehr nach Afrin verweigert, weil in deren Häusern mittlerweile türkeitreue islamistische Milizen von den Gruppen Faylaq al-Rahman, Dschaisch al-Islam, Tahrir al-Sham und Ahrar al-Sham mit ihren Familien, die vor der Bombardierung des östlichen Ghouta durch das syrische Regime flohen, dort angesiedelt worden seien.

ANF veröffentlichte im August 2018 eine Liste der Orte, wo die einheimischen Bewohner vertrieben wurden und ca. 41.0000 Islamisten aus Ost-Gouta angesiedelt wurden.

Rudaw berichtet, dass auch turkmenischen Familien Immobilien angeboten wurden. Das türkische Militär habe zwischen 32 und 45 Schulen abgerissen und 318 Schulen, Institute oder Universitäten geschlossen. Über 50.000 Kinder haben keinen Zugang mehr zur Schule. Der türkische Staat zwingt die Bevölkerung zur Bildung in türkischer und arabischer Sprache, in den Schulen werde türkisches Lehrmaterial verwendet.

Der kurdische Bevölkerungsanteil in Afrin betrug vor der Annexion durch die Türkei 65 Prozent. Überall wurden nun türkische Fahnen aufgehängt, Namen von Einrichtungen und Straßen türkisiert. Der zentrale Platz von Afrin wurde in "Erdogan-Platz" umbenannt. Die Frauen werden gezwungen, sich zu verschleiern. Salih wies darauf hin, dass die Praktiken der Türkei sowohl nach dem Romstatut als auch dem Genfer Protokoll von 1949 zufolge ein Kriegsverbrechen seien.

Der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner zeigte sich betroffen, angesichts der vorgelegten Beweise über die Gewalt durch den türkischen Staat und seiner islamistischen Milizen: "Wir müssen uns gegen die Gewalt der türkischen Besatzung stellen. Wir sollten fragen, warum es so still ist um das, was hier insbesondere den Kurden angetan wird",sagte.

Kouchner kündigte an, sich in Frankreich für ein Ende der Mord- und Vertreibungspraxis einzusetzen. Die Bevölkerung in Nordsyrien sei von den Hegemonialinteressen Russlands, der USA, des Iran und anderer Weltmächte direkt betroffen.

Christopher What von der medizinischen Fakultät der Universität British-Columbia verglich die Situation in Shengal mit der in Shehba. What berichtete, dass sich etwa 300.000 Flüchtlinge aus Afrin in der benachbarten Region Shehba in Flüchtlingslagern befinden und beklagte, dass die humanitäre Hilfe für die Region Shehba vom Regime in Damaskus aufgehalten werde.

What hatte im Frühjahr 2017 als Mediziner in einem Gesundheitszentrum im Shengal gearbeitet. Afrin hatte in den vergangenen Jahren über 400.000 Binnenflüchtlinge aufgenommen, die nun zusammen mit der Bevölkerung Afrins erneut auf der Flucht sind, viele in der Region Shehba, aber sind auch in den Kantonen Kobane, Hasaka und Qamishlo bis an die Grenze zum Irak untergekommen.

Ein weiterer internationaler Teilnehmer der Konferenz in Amûdê/Nordsyrien war der US-amerikanische Politikwissenschaftler David L. Phillips. Er leitetet das Programm "Peace-building and Rights" am Menschenrechtsinstitut der Universität Columbia. In seinem Vortrag auf dem über die politischen Entwicklungen und die Machtaufteilung in Syrien ging er auf die Bedeutung einer Verfassung und die Begriffsfelder staatliche Souveränität, föderaler Staat, konföderale Einheit, Minderheitenrechte und weltweite Menschenrechtsmaßstäbe ein.

Der Politikwissenschaftler erklärte, Sicherheit sei die Voraussetzung für Frieden und Ruhe. Frieden könne nur durch kulturelle Vielfalt und den Willen zu einem Zusammenleben entstehen. Der österreichische Wissenschaftler und Buchautor Thomas Schmidinger appellierte an die internationale Gemeinschaft, neutrale Journalisten in die Region zu entsenden. Die Türkei blockiere auch unabhängige Untersuchungen von Menschenrechtsorganisationen im Kanton Afrin.

Gérard Chaliand, ein französischer Experte für Geopolitik, bezeichnete die Haltung der internationalen Gemeinschaft zu den in Afrin stattfindenden Menschenrechtsverletzungen als Ausdruck fehlender Courage. "Bei der Besatzung von Afrin ist nichts respektiert worden. Es war eine vollständig illegale Intervention. Bei der stattgefundenen Vertreibung handelt es sich um eine ethnische Säuberung."

Der Schriftsteller und Forscher Pir Rostam erklärte gegenüber Rudaw: "Dies ist eine Chance für die Menschen in der Region Afrin, ihre Stimmen über die große Katastrophe zu hören, die Afrin getroffen hat (…) Die größte Chance liegt bei kurdischen Politikern. Wenn sie aktiv und diplomatisch sind und die kurdische Diplomatie in die Welt, in Menschenrechtsorganisationen und internationale Organisationen eindringen kann, können Sie der Welt die kurdische Frage und die Tragödie von Afrin verständlich machen. "

In der Abschlusserklärung der Konferenz in Amûde wurde die unverzügliche Beendigung der Besatzung Afrins durch die Türkei gefordert. Der Luftraum in Nordsyrien müsse für türkische Kampfflugzeuge geschlossen werden.

Ein internationales Dokumentationszentrum in Afrin soll die Menschenrechtsverletzungen der Türkei aufnehmen. Diese sollen an internationale Gerichte weitergeleitet werden. Ebenso sollen die Namen der türkischen Militärkommandanten und Milizionäre in Afrin dokumentiert und bei der internationalen Gerichtsbarkeit eingereicht werden.