Inflation der Einzelfälle?

Sind es unzählige, bedauerliche Einzelfälle oder muss in Hinblick auf rechte Umtriebe im deutschen Staatsapparat schon von einem strukturellen Problem gesprochen werden?

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Deutliche, klare Kritik an Deutschlands Sicherheitskräften wäre noch vor einigen Jahren in dem Mainstream der veröffentlichten Meinung kaum denkbar gewesen - schließlich gilt die Polizei in Deutschland laut Umfragen noch immer als eine der vertrauenswürdigsten gesellschaftlichen Institutionen. Doch inzwischen scheint das Narrativ der bundesrepublikanischen Polizei und Justiz, wonach es sich bei den rechtsextremistischen Umtrieben im Staatsapparat um Einzelfälle handele, in der Öffentlichkeit arg ins Wanken zu geraten.

Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk bemerkte der Publizist und NSU-Experte Tanjev Schultz, dass es sich bei den vielen Skandalen der vergangenen Monate (Rechtsstaat in Aktion) mitnichten um eine Inflation von rechtsextremen Einzelfällen handele, sondern dass hier "eher ein strukturelles Problem" bei den Sicherheitskräften vorliege. Diese würden oft Menschen mit "einen sogenannten autoritären Charakter" anziehen, die dazu neigten, "womöglich rechtsextreme Einstellungen" zu pflegen, die dann aufgrund des vorherrschenden Korpsgeistes bei der Polizei noch verstärkt und verbreitet würden.

Dies sei an und für sich kein neues Phänomen, so Schultz, doch zeigten die sehr vielen rechtsextremen Vorfälle der jüngsten Vergangenheit, dass die Polizei verstärkt ein Problem mit Rechtsextremismus habe, der "vielleicht nicht in der Mehrheit der Beamten, aber doch in einem beachtlichen Teil, in einer Teilgruppe, die uns Sorge machen muss," ausgeprägt sei. Es fehlten darüber hinaus wissenschaftliche Untersuchungen zu der sensiblen Thematik, bei denen die Verflechtung von Staatsstrukturen und Rechtsextremismus beleuchtet würde, da "Politik und auch die Behördenchefs" bisher wenig Interesse gezeigt hätten. dies "systematisch als Problem zu erkennen und anzugehen".

Mitte Dezember wurde etwa nach Medienrecherchen publik, dass die Innenministerien in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Sachsen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt weiterhin keinerlei Statistiken führen, die Auskunft über das Ausmaß rechtsextremer Vorfälle bei Polizei und Justizbehörden geben könnten.

Legitimitätsverlust

Die Tendenz innerhalb der Behörden, rechtsextreme Vorfälle "unter den Teppich zu kehren" und dann irgendwie "intern" zu lösen, führe zu einer starken Verunsicherung in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung der Bundesrepublik, schlussfolgerte Schultz. Viele Menschen mit Migrationshintergrund seien verunsichert, "auch mit türkischen Wurzeln", da sie "schon lange kein Vertrauen" mehr zu den Sicherheitskräften der Bundesrepublik hätten. Dies sei "ganz bitter und führt natürlich auch zu keinem gedeihlichen Miteinander". Diese Menschen würden dann im Notfall nicht mehr Hilfe bei der Polizei, sondern woanders suchen, was "dramatisch" sei.

Diesen drohenden Legitimitätsverlust der Polizei bei Bundesbürgern mit Migrationshintergrund thematisierte auch der Schriftsteller Deniz Utlu in einem Gastbeitrag auf Spiegel Online. Angesichts der jüngsten Vorfälle und des NSU-Skandals stelle sich die Frage "im Grunde nicht mehr", ob die Sicherheitsbehörden vertrauenswürdig seien. Dieser "Vertrauensverlust" wiege aber nicht so schwer wie der "Verlust von Menschenleben", den der Rechtsterrorismus in der BRD zu verantworten hat.

Das Misstrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden werde somit "beinah zu einer demokratischen Pflicht", da innerhalb des Staatsapparates offensichtlich "Netzwerke" existierten, die "sich zum Faschismus bekennen", warnte Utlu. In einem funktionierenden Rechtsstaat komme es nicht so sehr darauf an, wie sicher sich diejenigen fühlten, "die nicht bedroht" würden. Ob die Bundesrepublik ein Land mit "vertrauenswürdigen Behörden" sei, entscheide sich "am Wohl derjenigen, die am wenigsten geschützt" seien - obwohl es eine solche Personengruppe in einem Rechtsstaat gar nicht geben dürfte. Deswegen gelte es, die Perspektive der Menschen in der Bundesrepublik einzunehmen, "deren Körper am gefährdetsten sind".

Frankfurter Polizisten wollten Kinder "schlachten"

Diese sehr konkrete Gefährdung der Körper von Menschen mit Migrationshintergrund hat ihre Ursache in den zunehmenden rechtsterroristischen Tendenzen in und außerhalb des Staatsapparates der Bundesrepublik. Welche Erfahrungen können nun Menschen mit Migrationshintergrund mit den Sicherheitskräften der Bundesrepublik sammeln?

Aus der Perspektive der Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die unter anderem als NSU-Opferanwältin auftrat, kann der deutsche Staatsapparat regelrecht terroristische Züge annehmen, die an die Praktiken des türkischen Regimes unter Erdogan erinnern: "Wir werden deine Tochter schlachten." Mit solchen Drohungen traktierten rechtsextreme Frankfurter Polizisten die als "miese Türkensau" und "Schwein" beschimpfte Anwältin in einem Drohschreiben vom 2. August, in dem ihre Privatadresse und der Vorname ihrer Tochter genannt wurden.

Basay-Yildiz solle sich "verpissen", solange sie noch aus Deutschland "lebend" herauskomme, schrieben die Polizeibeamten in dem Fax, die sich die Privatadresse der Anwältin durch Zugriff auf einen Polizeicomputer verschafften. Das Drohschreiben war unterzeichnet mit "NSU 2.0", womit sich die daran beteiligten Beamten eindeutig in die rechtsterroristische Tradition des deutschen Nationalsozialismus stellten.

Inzwischen weitet sich der Skandal um die Nazi-Zelle im Frankfurter Polizeirevier Nr. 1, deren Mitglieder auch rassistische und verfassungsfeindliche Nachrichten in sozialen Netzwerken austauschten, auf weitere Polizeidienststellen in Hessen aus.

Das hessische Landeskriminalamt (LKA) ermittelt inzwischen auch in weiteren Verdachtsfällen gegen ein "rechtsextremes Netzwerk" innerhalb der hessischen Polizei, berichtete Spiegel Online. Es seien auch Büros im hessischen Landkreis Marburg-Biedenkopf durchsucht worden. Eine Arbeitsgruppe des LKA soll ermitteln, inwiefern sich ähnliche Nazi-Zellen in den Polizeikräften des Bundeslandes gebildet hätten.

Derweil wurde bekannt, dass das Frankfurter Polizeipräsidium die Übernahme der Ermittlungen durch das LKA hinauszögerte, da es schon im Oktober darüber unterrichtet war, dass rechtsextreme Polizisten damit gedroht haben, die zweijährige Tochter einer NSU-Opferanwältin zu "schlachten". Diese Informationen leitete das Polizeipräsidium nicht an das LKA weiter.

Berliner Drohgebärden und Dresdner Parteikarrieren

Mit Drohbriefen, abgeschickt von Polizeibeamten, beschäftigte sich auch das Berliner Landeskriminalamt. Mitglieder der linken Berliner Szene, Bundestagsabgeordnete, Journalisten und ein SPD-Mitglied haben Ende 2017 anonyme Drohbriefe erhalten, in denen ihnen die Weitergabe ihrer persönlichen Daten an rechtsterroristische Strukturen angedroht wurde.

Die in den Einschüchterungsschreiben verwendeten Informationen wurden im Rahmen polizeilicher Ermittlungen gegen die linke Szene in Berlin gesammelt, weshalb der Verdacht sehr schnell auf Berliner Polizisten fiel, wie auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtete. Als Absender der Drohbriefe fingierte ein "Zentrum für politische Korrektheit", eine offensichtliche Anspielung auf das in rechtsextremen Kreisen verhasste "Zentrum für politische Schönheit"

Inzwischen habe ein Berliner Polizist gestanden, die Schreiben unter Verwendung von polizeiinternem Material verschickt zu haben, meldeten lokale Medien unter Verweis auf Erkenntnisse des Magazins Kontraste. Demnach habe der Beamte einen Strafbefehl von 3500 Euro akzeptiert - er gilt weiterhin als nicht vorbestraft. Unklar bleibt weiterhin, wo genau der Täter im Apparat der Berliner Polizei tätig ist, da die Berliner Polizei alle diesbezüglichen Anfragen unbeantwortet ließ. Der Polizeibeamte, der Nazis mit den Adressen von Linken, Journalisten und SPDlern beliefern wollte, bleibt weiterhin im Amt.

Beamte, die illegal ihre Machtstellung im Staatsapparat ausnutzen, um ihre rechtsextremen Sympathien auszuleben oder die Neue Rechte zu unterstützen, scheinen in der AfD ihre politische Heimat gefunden zu haben. Dies lässt zumindest der Fall des Dresdner Justizvollzugsbeamten Daniel Z. (39) vermuten, der inzwischen in die ins Rechtsextreme abdriftende Partei eingetreten ist.

Gegen den Justizbeamten wird wegen der Verletzung von Dienstgeheimnissen ermittelt, da er den Haftbefehl eines der mutmaßlichen Täter veröffentlichte, die den Deutschkubaner Daniel H. in Chemnitz getötet haben sollen - dessen Tod im vergangenen August instrumentalisierten bekanntlich Rechtsextremisten und Rechtspopulisten, um in Chemnitz pogromartige Ausschreitungen und Hetzjagden zu entfachen. Schon damals schienen Teile der Staatsmacht - insbesondere an der Spitze von Verfassungsschutz und Bundesinnenministerium - ihre Sympathien für den braunen Mob, der auf den Straßen wütete, kaum noch verbergen zu können.

Die illegale Veröffentlichung des Haftbefehls durch Daniel Z. soll maßgeblich zum Anfachen der pogromartigen Ausschreitungen in Chemnitz, die auch vor jüdischen Einrichtungen nicht Halt machten, beigetragen haben. Inzwischen wird der mutmaßliche Täter, gegen den immer noch die Dresdner Staatsanwaltschaft ermittelt, in rechten Kreisen als ein Held gefeiert. Der suspendierte Justizvollzugsbeamt ist inzwischen nicht nur der AfD offiziell beigetreten - er bemühte sich auch um eine Direktkandidatur in einem Dresdner Wahlkreis, hieß es in Medienberichten.

Schießfreudiges Uniter-Netzwerk

Neue Erkenntnisse zu der "Schwarzen Reichswehr":http://www.taz.de/!5557397/, einem mutmaßlichen Netzwerk von Rechtsextremisten in Spezialeinheiten der Bundeswehr und Polizeikräften, das Massenmord- und Putschpläne für den Krisenfall geschmiedet haben soll, legte indessen die Tageszeitung vor. Demnach arbeite das Uniter-Netzwerk an dem Aufbau einer bewaffneten Formation, eines paramilitärischen Arms.

Die Tageszeitung konnte eine militärische Übung des Uniter e.V. nachweisen, an der Mitglieder des sektenartig organisierten Netzwerkes mit Waffen oder Waffenartrappen im Juni 2018 in Mosbach teilnahmen - und die offiziell während eines "Ersthelfer-Training" durchgeführt worden war. Die Zeitung legte zudem starke Indizien für weitere Trainingseinheiten der Gruppe vor. Der Leiter des Trainingsgeländes spricht inzwischen von einer "paramilitärischen Ausbildung", die das Netzwerk dort durchführte. In einer Stellungnahme erklärte Uniter im Nachhinein, dass es sich hierbei um eine "Selbstverteidigungsübung" gehandelt habe, bei der nur Waffenattrappen verwendet wurden. Inzwischen hat der Betreiber des Trainingsgeländes der Uniter e.V. dessen weitere Nutzung untersagt.

Gegenüber der Tageszeitung erklärte das Innenministerium in Baden-Württemberg, dass "keine rechtsextremistischen Bezüge" zu Uniter festgestellt werden konnten, doch gegenüber der Leitung des Trainingsgeländes in Mosbach wurde die Einstellung der Zusammenarbeit mit Uniter von eben jenen Innenministerium in einem Schreiben ausdrücklich begrüßt. Bei informellen Gesprächen mit der Tageszeitung über Uniter hieß es seitens des Innenministeriums, man könne doch "nicht jeden Käse bewerten".