Bundestagsjuristen rügen erneut Venezuela-Politik der Bundesregierung

Experten sehen "Abkehr von der bisherigen Anerkennungspraxis der Bundesrepublik Deutschland". Einfrieren von Vermögen illegal

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Zum zweiten Mal binnen zwei Wochen (Juristen stellen Anerkennung von Venezuelas Gegenpräsidenten in Frage) haben Juristen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages die Venezuela-Politik der Bundesregierung gerügt. In einem Gutachten, über das zunächst die Presseagentur dpa berichtete und das auch Telepolis vorliegt, kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Anerkennung des selbsternannten Interimspräsidenten von Venezuela, Juan Guaidó, ein außenpolitisches und diplomatisches Novum darstellt.

Es handele sich "in gewisser Weise (um) eine Abkehr von der bisherigen Anerkennungspraxis der Bundesrepublik Deutschland", heißt es in der gut zehnseitigen Studie: "Bislang war es jahrelange deutsche Staatspraxis, lediglich Staaten anzuerkennen und keine Regierungen oder Präsidenten."

Die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel hatte den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages um eine Einordnung der Anerkennung Guaidós durch die Bundesregierung sowie um eine Einschätzung bestehender und weiterer möglicher Wirtschaftssanktionen gegenüber Venezuela gebeten.

Das Gutachten nennt zur Einordnung die Fälle von Libyen und Syrien. Ansonsten gebe es wenige Vergleichsfälle in der Geschichte der Bundesrepublik. Diese würden sich durchweg "auf Bürgerkriegssituationen" beziehen und seien daher "mit der Situation in Venezuela nicht wirklich vergleichbar".

Bezüglich der Sperrung von Guthaben und Sacheinlagen beruft sich die Bundestagsanalyse auf bereits in der Presse mehrfach geäußerte Einschätzungen von Völkerrechtlern. Demnach dürften Regierungen "nicht einfach ohne Rechtsgrund ausländisches Staatseigentum beschlagnahmen". Dies betrifft bislang das Einfrieren von Geldern aus dem venezolanischen Erdölgeschäft in den USA. Großbritannien weigert sich zudem, Goldeinlagen in Milliardenhöhe in Tresoren der Bank of England an Venezuela auszuhändigen.

"Wirtschaftssanktionen können als verbotene Interventionen völkerrechtswidrig sein"

Zwar seien nicht alle Wirtschaftssanktionen von per se völkerrechtswidrig, heißt es nun von den Bundestagsexperten. Wirtschaftssanktionen eines Staates gegen einen anderen Staat könnten dann völkerrechtskonform sein, "wenn der sanktionierende Staat damit auf eine Völkerrechtsverletzung des sanktionierten Staates ihm gegenüber reagiert" Solche Gegenmaßnahmen sind im Fall der bisherigen Strafmaßnahmen westlicher Staaten gegen Venezuela aber offensichtlich nicht der Fall.

Rechtsgrundlagen für Wirtschaftssanktionen fänden sich in Art. 39 und 41 VN-Charta. Diese Normen, so erklären die Bundestagsjuristen, ermächtigten den UN-Sicherheitsrat zu Maßnahmen, um die internationale Sicherheit zu wahren. "Diese Maßnahmen können u.a. die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen einschließen", heißt es in dem Papier. Unter "welchen Bedingungen Wirtschaftssanktionen gegen das Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) verstoßen", sei aber im Einzelfall umstritten. Unterhalb der "Schwelle zur Gewalt können Wirtschaftssanktionen gleichwohl als verbotene Interventionen völkerrechtswidrig sein".

Auch nach der Charta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sind Sanktionen dem Gutachten zufolge nicht legitim. Laut der Artikel 19 und 20 hat "kein Staat oder Staatengruppe das Recht zur Einmischung in innere Staatsangelegenheiten, direkt oder indirekt, für welchen Grund auch immer". Dies bezieht sich nicht nur auf bewaffnete Interventionen, sondern auf jegliche Form der Einmischung. Die Anwendung oder auch nur Ermunterung zu wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen sind den Mitgliedsstaaten untersagt, zitiert das Gutachten die Artikel der OAS-Charta.

In Venezuela hat sich am 23. Januar der Präsident des oppositionell dominierten Parlaments selbst zum Interimspräsidenten ernannt. Die verfassungsrechtliche Grundlage dieser Proklamation ist in Venezuela und international extrem umstritten. Einige Regierungen erkannten Guaidó umgehend als legitimen Präsidenten an, darunter vor allem die USA, EU-Staaten und rechtsgerichtete Regierungen Lateinamerikas. Die USA drohen Venezuela zudem immer aggressiver mit einer Militärintervention, sollte Präsident Nicolás Maduro nicht die Macht abgeben.