Wenn ein Terroranschlag nicht aufgeklärt werden soll

Fahndungsfoto. Bild: Karl-Ludwig Poggemann/CC By-SA-2.0

Amri-Ben Ammar-Komplex: Im Untersuchungsausschuss des Bundestages präsentieren sich ranghohe Staatsanwälte als Bremser und Strafvereiteler

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Der Verdacht beginnt sich zur Gewissheit zu verdichten: Die Hintergründe des Anschlages auf den Weihnachtsmarkt in Berlin am 19. Dezember 2016, der zwölf Menschen das Leben kostete und Dutzende verletzte, sollen nicht aufgeklärt werden. Anders sind die jüngsten Auftritte zweier hochrangiger Zeugen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) des Bundestages nicht zu interpretieren: ein Oberstaatsanwalt der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und der stellvertretende Generalstaatsanwalt von Berlin.

Klar wird außerdem: Die Abschiebung des Amri-Freundes Ben Ammar geschah auf Geheiß von zwei Bundesministerien. Es ist wie ein Anschlag nach dem Anschlag. Und die Frage ist, seit wann die Politik im Terrorkomplex Amri-Ben Ammar die Finger im Spiel hatte. Schon vor dem Anschlag?

Die Abschiebung des Tatverdächtigen Tunesiers Bilel Ben Ammar sechs Wochen nach der Tat ist ein Schlüsselereignis. Und zwar deshalb, weil diese mutwillige politisch motivierte Aktion nicht mit den entschuldigend vorgebrachten Erklärungen der Sicherheitsbehörden kompatibel ist, man habe die Gefährlichkeit des späteren - mutmaßlichen - Attentäters Anis Amri falsch eingeschätzt. Wenn das so war, warum lässt man dann nach dem Anschlag wieder einen Verdächtigen gehen? Im Fall Ben Ammar wurde nicht etwa geirrt, sondern absichtsvoll gehandelt. Also auch im Fall Amri?

Am 29. Dezember 2016, zehn Tage nach dem Verbrechen auf dem Breitscheidplatz, erweiterte die Bundesanwaltschaft das Mordverfahren neben Amri auch auf Bilel Ben Ammar. Am 13. Januar 2017 vertrat die oberste Strafverfolgungsbehörde der Bundesrepublik gegenüber dem Bundesjustizministerium die Auffassung, es lägen "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vor, dass Ben Ammar in die Anschlagspläne eingeweiht und zumindest hilfeleistend beteiligt" gewesen sei. Eine Einschätzung, die ein Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof (BGH), der über einen weiteren Haftbefehl zu entscheiden hatte, noch am 16. Februar 2017 teilte: "Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand besteht der Verdacht, dass der Beschuldigte Ben Ammar und weitere Personen an der Planung der Tat beteiligt waren."

Zu diesem Zeitpunkt war Ben Ammar nicht mehr in Deutschland. Am 1. Februar 2017 wurde er aus der Untersuchungshaft heraus nach Tunesien abgeschoben. Diese Entscheidung war bereits Ende Dezember 2016 auf höchster politischer Ebene getroffen worden - im Bundesinnenministerium (CDU-geführt) und im Bundesjustizministerium (SPD-geführt). In der Folge wurden die untergeordneten Behörden veranlasst, einer Abschiebung des Mordverdächtigen zuzustimmen.

Die Befehlsketten, die im Verlaufe der Ausschusssitzung im Bundestag deutlich wurden, verliefen hierarchisch von oben nach unten. Im Bundesinnenministerium (BMI) war dafür verantwortlich die Staatssekretärin Emily Haber, heute Botschafterin Deutschlands in den USA. Ihr teilte am 16. Januar 2017 ein BMI-Mitarbeiter per Mail die "frohe Kunde" mit, dass das Bundesland Sachsen, in dem Ben Ammar registriert war, einen "Abschiebehaftantrag" gestellt habe. Damit würde, so der Mailschreiber an die Staatssekretärin, "Ihre Entscheidung" umgesetzt, Ben Ammar abzuschieben.

Das Bundesjustizministerium gab direkt am 13. Januar 2017 in Person eines Ministerialrates, der heute auf der Regierungsbank im Amri-Ausschuss sitzt (Michael Greßmann), entsprechende Rückmeldung an die ihm unterstellte Bundesanwaltschaft (BAW). Bundesanwalt Horst Salzmann, der dort für das Breitscheidplatz-Verfahren verantwortlich ist, fertigte noch am selben Tag die Abschiebungsverfügung und trug dem ihm unterstellten Oberstaatsanwalt Helmut Grauer auf, sie zu unterzeichnen. Grauer fungiert in der Karlsruher Behörde als Hauptsachbearbeiter des Tatkomplexes Breitscheidplatz, sprich der BAO City. Aufgrund der Dimension des Verfahrens arbeitet ein ganzes Team von Staatsanwälten an dem Verfahren.

Warum wollte die Bundesregierung Ben Ammar unbedingt loswerden?

Parallel gab es eine Kommunikation zwischen der Bundesanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin. Die Bundesbehörde brachte die Landesbehörde auf Linie. Daraufhin mischte sich dort die Amtsspitze in Gestalt des Chefs (damals Ralf Rother) und des Vize-Chefs (Dirk Feuerberg) in das Verfahren, das eine Oberstaatsanwältin führte, und gab der Abschiebung Ben Ammars ebenfalls den Segen. Wenige Tage zuvor hatte die Berliner Behörde noch einen Haftbefehl gegen Ben Ammar beantragt und bekommen.

Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages sagte BAW-Vertreter Grauer jetzt, es gebe keine konkreten Hinweise, dass Ben Ammar an der Tat oder an ihrer Vorbereitung oder Planung beteiligt gewesen sei.

Wo der Amri-Freund zehn Tage lang nach dem Anschlag war, können die Ermittler allerdings nicht sagen. War er abgetaucht, weil er etwas mit der Tat zu tun hatte? Hatte er Amri bei der Flucht geholfen? Die Bundesanwaltschaft hat nichts unternommen, um das herauszufinden. "Wir wissen, wo Amri war", so Grauer, "es gibt keine Anhaltspunkte, dass Ben Ammar in seiner Nähe war."

Das stimmt so nicht: Wie Amri nach der Tat nach Emmerich in Nordrhein-Westfalen kam, wo er einmal untergebracht war, warum er sich dort hinbegab und wen er möglicherweise traf, weiß die BAW beispielsweise nicht. Ebenso, warum Amri nach Mailand fuhr, wo er am 23. Dezember 2016 von der Polizei erschossen wurde. Wahrscheinlich, so Grauer, habe er sich schlicht "verirrt" und sei irgendwann mal "falsch abgebogen".

Das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten Ben Ammar lief auch nach dessen Abschiebung noch bis zum Oktober 2017 weiter, ehe es eingestellt wurde. So sicher, dass er nichts mit dem Anschlag zu tun hatte, war sich die Bundesanwaltschaft wohl doch nicht gewesen. Derzeit sieht sie aber keinen Anlass, die Ermittlungen gegen Ben Ammar wieder aufzunehmen. Die Ermittlungen gegen mögliche weitere Täter liefen zwar weiter, es gebe aber keine Anhaltspunkte, dass Amri Mittäter oder Helfer gehabt habe, so der Karlsruher Oberstaatsanwalt.

Ben Ammar wurde in Tunesien nach seiner Rückkehr wegen Mitgliedschaft in der Terrororganisation Ansar al-Sharia zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Frage ist: Warum wollte die Bundesregierung Ben Ammar unbedingt loswerden? Weil er Mitglied einer Terrororganisation war? Weil man sich einen zweiten "NSU-Prozess" ersparen wollte? Oder weil der Mann vielleicht doch im Dienst einer fremden Macht stand? Nach unbestätigten Medienberichten soll er für einen marokkanischen Geheimdienst gearbeitet haben.

Den Haftbefehl-Antrag gegen Anis Amri vom 21. Dezember 2016 begründete die Bundesanwaltschaft, wie der Ausschuss herausgefunden hat, auch mit Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Welche das waren und woher sie kamen, wissen die Abgeordneten nicht. BAW-Vertreter Grauer konnte zu der Frage nichts beitragen, er hatte an einen solchen Sachverhalt keine Erinnerung.

Durch den politisch verfügten Abschiebungsbeschluss der Bundesregierung wurden die gerade begonnen Mordermittlungen nach dem Anschlag ignoriert bzw. torpediert. Die Auswertung des Handys von Ben Ammar, auf dem sich Indizien für eine Tatvorbereitung fanden (Fotos vom späteren Tatort), wurde nicht abgewartet. Die zweite Vernehmung des Beschuldigten fand nach dem Abschiebungsbeschluss vom 13. Januar am 19. Januar 2017 statt, entsprechend uninspiriert wurde sie geführt. Sie war witzlos geworden.

Bei den Vernehmungen wurde Ben Ammar auch der Lügen überführt. Das war aber weder für das BKA noch die Bundesanwaltschaft ein Verdachtsgrund mehr gegen ihn, sondern ein geradezu willkommen erscheinender Anlass, von dem Verdächtigen abzulassen.

Oberstaatsanwalt: Ben Ammar hatte "das gute Recht zu lügen"

Der Auftritt von Oberstaatsanwalt Helmut Grauer vor dem Untersuchungsausschuss geriet an diesem Punkt zu einer grotesken Farce. Als ein Ausschussmitglied (Volker Ullrich, CSU) die Frage nach möglicher "psychischer Beihilfe" aufwarf, die Ben Ammar Amri geleistet haben könnte und auf die, sei ergänzt, die Bundesanwaltschaft in so manchen Verfahren (NSU: Zschäpe, Hamburg: G 20-Beschuldigte) gerne zurückgreift, wies der Terroristenjäger in diesem Falle kategorisch zurück: Ben Ammar habe doch bei seiner Vernehmung verneint, Kenntnisse von Tatplanungen gehabt zu haben, also könne er gar keine psychische Beihilfe oder Unterstützung geleistet haben. Ben Ammar habe zwar "offenkundig" gelogen, so Grauer, es gehe aber nicht darum, ihm nachzuweisen, dass er gelogen hat, denn als Beschuldigtem "stehe ihm das zu". Er habe, erklärte der BAW-Vertreter gar, "das gute Recht zu lügen".

So argumentiert ein Verteidiger, aber nicht ein Strafverfolger, für den eine Lüge eines Beschuldigten ein Indiz für Schuld darstellt und zu weiteren Ermittlungen veranlassen müsste. Tatsächlich tritt so ein Beamter auf, der sich dem Staatsschutz verpflichtet fühlt und nicht dem Recht. Was man hier live vorgeführt bekam, war eine Missachtung des Rechtsstaates - ein Staatsanwalt der Bundesanwaltschaft praktiziert Strafvereitelung.

Der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser, von Beruf Rechtsanwalt, reagierte bestürzt. Er halte viel von "unserem Rechtsstaat" erklärte er, aber dass bei einem solchen Anschlag eine derartige "Gleichgültigkeit" an den Tag gelegt werde, mache ihn "fassungslos". Andere Abgeordnete äußerten sich nach der Sitzung ähnlich.