"Von ganz oben" - Die Perspektive auf den Amri-Komplex verändert sich

Der Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses Berlin tut sich allerdings schwer, Konsequenzen aus dem Auftritt des Kriminalbeamten aus Nordrhein-Westfalen im Bundestag zu ziehen

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Die aufsehenerregende Aussage eines Beamten des Landeskriminalamtes von Nordrhein-Westfalen am 14. November im Untersuchungsausschuss des Bundestages verändert die Perspektive auf den Terroranschlag vom Breitscheidplatz, die mutmaßliche Tätergruppe sowie den mutmaßlichen Haupttäter Anis Amri.

"Von ganz oben im Bundeskriminalamt sowie im Bundesinnenministerium" sei die Anweisung ergangen, wie ihm erklärt worden sei, einen Informanten von dem umtriebigen und gewaltbereiten Islamisten Amri abzuziehen - so der Zeuge während seiner Befragung ( Der Amri-Skandal erreicht Ex-Innenminister De Maizière). Ein Sprecher des Innenministeriums (BMI) hat das am Folgetag in der Bundespressekonferenz mündlich dementiert, eine Woche danach ist der Konflikt offener denn je - es steht Aussage gegen Aussage.

Der streitbare Beamte, Kriminalhauptkommissar M., Leiter der Ermittlungen gegen den mutmaßlichen IS-Statthalter in Deutschland, hatte im Februar 2018 auch im parlamentarischen Untersuchungsausschuss von Berlin ausgesagt. Damals gab es den Ausschuss im Bundestag noch nicht. Die nämliche Auseinandersetzung um die Polizeiquelle VP 01 erwähnte M. im Abgeordnetenhaus nicht.

Er war noch mehr Antworten schuldig geblieben, unter anderem weil der Generalbundesanwalt zu jener V-Person 01 "Murat", aber auch zu einem Islamisten namens "Bilel" sowie zu verschiedenen Aspekten der Causa Amri, ein Auskunftsverbot verhängt hatte.

"Jemand lügt"

Als jetzt am 22. November der Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses zu seiner jüngsten Sitzung zusammenkam, stellte sich die Frage, welche Auswirkungen dort der Paukenschlag im Bundestag und die Aussage des Kriminalbeamten haben werde. Doch die Abgeordneten fast aller Fraktionen äußerten sich zurückhaltend und versuchten, die Kontroverse als Sache zwischen dem Land NRW (LKA) und dem Bund (BKA) abzutun.

"Jemand lügt", befand der SPD-Abgeordnete Frank Zimmermann, fügte wie zur Selbstentlastung aber an, es handle sich um eine Angelegenheit zwischen Bundesbehörden und NRW, Berliner Behörden seien nicht beteiligt, insofern auch "wir" nicht. Auch Niklas Schrader (Linke) meinte, eigentlich könne nur eine der Aussagen stimmen. Für ihn ist der Sachverhalt aber deswegen interessant, weil er vielleicht nicht nur die eine V-Person betreffe, sondern möglicherweise einen Hintergrund hat, der kaum bekannt ist.

Benedikt Lux (Bündnis90/Grüne) fiel auf, dass das NRW-LKA wiederholt auf andere zeige, sich aber nie hinterfrage, warum es selber nicht mehr an Amri drangeblieben sei. In der Tat hatte der Leiter der Ermittlungskommission Ventum, die Amri als "Nachrichtenmittler" (technische Quelle) verwendete, bei seinem Zeugenauftritt im Februar 2018 gesagt, Amri sei im Juni 2016 von seiner Kommission in eine andere "verlagert" worden, die die weiteren Absprachen mit Berlin geführt habe. Dieser Vorgang ist bis heute ein großes Mysterium.

Eine "Von-oben"-Hypothese der anderen Art warf im Abgeordnetenhaus das FDP-Ausschussmitglied Stefan Förster auf. Er überlegte, ob der Auftritt Ms im Bundestag möglicherweise von "weiter oben", mit "übergeordneten Instanzen", abgesprochen gewesen sei. Förster geht davon aus, dass der LKA-Mann "politische Rückendeckung" besitze. Der Ausschussvorsitzende Stephan Lenz (CDU) wollte erst die Befragungsprotokolle aus dem Bundestag abwarten und danach beraten, ob die Zeugenaussage auch für den Berliner Ausschuss Konsequenzen hat.

Das Problem, so viel kann man als Beobachter der fraglichen Sitzung sagen, wird die Berliner Abgeordneten dann mit Macht erneut erreichen, denn der NRW-Beamte äußerte an vielen Stellen Kritik auch an seinen Kollegen im LKA Berlin, die wiederholt ihre Unterstützung verweigert hätten, selbst nachdem die Düsseldorfer dagegen "remonstriert" hätten, sprich: dienstlich Widerspruch einlegten.

Gelogen wurde von Anfang an

Verwunderlich ist die Zurückhaltung der Berliner Abgeordneten aber auch deshalb, weil man ihnen eigentlich nicht sagen muss, dass die Causa Amri nie nur eine von NRW war. Amri bewegte sich in Berlin und auch in Niedersachsen. Auf Polizeiebene waren neben dem Bundeskriminalamt (BKA) stets die Landeskriminalämter von NRW, Berlin und Niedersachen involviert. Und auch BKA-Vertreter Martin Kurzhals, den der Zeuge, ein Ermittler von der Kriminalpolizei, ebenfalls belastet hat, hatten die Berliner Abgeordneten schon einmal vernommen. Der Amri-Komplex ist ein bundesweiter Gesamtkomplex.

Eher konnte man bei ihnen ein Erschrecken über den aufgebrochenen Konflikt spüren - denn wenn eine von beiden Seiten "lügt", heißt das ja, dass nun die Lüge offiziell in den Amri-Komplex Einzug gehalten hat. Gelogen wurde von Anfang an, nun ist es amtlich. Die Aussage des Kriminalbeamten taugt also, die Perspektive auf die Hintergründe des Terroranschlages zu verändern.

V-Leute, die geschützt werden müssen

Kern des Konfliktes ist das Verhältnis von staatlicher V-Person und potentiellem Terrorist. Wenn die Sicherheitsbehörden mit V-Leuten in einer solchen Szene operieren, V-Leute also Teil dieser Szene sind, heißt das zugleich, dass diese Personen behördlicherseits geschützt werden müssen.

Wenn der Islamist Amri geschützt worden ist, wäre das bis zum 19. Dezember 2016 keine Besonderheit gewesen. Er könnte eben einer dieser zahlreichen (zweistellig) V-Leute gewesen sein. Dass er möglicherweise geschützt wurde, weil er möglicherweise eine V-Person war, wurde erst mit dem Anschlag zum Problem. Auch zu dieser Frage hatte sich der Kriminalbeamte im Februar 2018 geäußert.

Amri sei ihnen aufgefallen, weil er alles andere als ein "lonely wolf" war, weil er schon überall Kontakte hatte und in einer derart zielstrebigen Weise Leute um sich scharte, dass sie den Verdacht hegten, er könnte "eine Quelle" sein. Alle angefragten Dienststellen hätten das allerdings verneint.

Doch mit einer solchen Perspektive verändert sich komplett das Vorzeichen der Geschichte. Und viele Puzzlestücke, die bisher nicht zusammenpassen und anscheinend nur für tausend Pannen, Fehleinschätzungen, Fehler Einzelner, Missverständnisse und Zufälle stehen können, bekommen eine Logik, wenn man sie anders zusammensetzt.

Dafür boten die zwei Zeugen, die jetzt im Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses vernommen wurden, weiteres Material: Eva-Maria Tombrink, Oberstaatsanwältin in der Abteilung Staatsschutz bei der Generalstaatsanwaltschaft von Berlin, die auch schon im U-Ausschuss des Bundestages aufgetreten war sowie Staatsanwalt Jens Wegmarshaus.

Fragwürdigkeiten

Tombrink war 2015, 2016 mit einer ganzen Reihe von Terrorverdächtigen befasst: unter anderem mit Bilel Ben Ammar, Habib Selim, Soufiane A., Emrah C., Resul K., Feysel H. und Walid S. Alle waren mit Amri bekannt, zum Beispiel durch die Fussilet-Moschee, einige traf er am Vorabend, einige noch am Anschlagstag. Walid S. wurde Stunden nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz zusammen mit zwei Freunden von der Polizei kontrolliert.

Zu den fünf letztgenannten wollte Tombrink nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen. Zum Verfahren gegen Selim, der dann im Mai 2016 in die Schweiz abgeschoben wurde, hatte das BKA wesentliche Informationen beigesteuert. Wie die Ausschussmitglieder der Linksfraktion herausgefunden haben, wurde ein Teil dieser Informationen von einer menschlichen Quelle geliefert. Dazu musste Tombrink passen.

Mit Amri selber war die Oberstaatsanwältin allerdings nicht betraut. Dieser Fall war Chefsache und wurde vom Leiter der Staatsschutzabteilung, zugleich stellvertretender Generalstaatsanwalt von Berlin, Dirk Feuerberg, geführt. Die Akte Amri habe sie nie zu Gesicht bekommen, so Tombrink. Dass Amri in der Fussilet-Moschee verkehrte, unter deren Anhängern sie mehrere Verfahren führte, will sie nicht gewusst haben. Ebenso wenig sei ihr bekannt gewesen, dass Amri als Gefährder eingestuft war.

Das alles erweckt den Eindruck, dass der auffällige Tunesier abgeschirmt wurde. Ob er eine Quelle war, ist ungeklärt, aber er wurde behandelt wie eine solche. Und das BKA scheint dabei eine Rolle zu spielen.

Mit Bilel Ben Ammar, dem mutmaßlichen Amri-Komplizen, wiederum hatte Tombrink vor allem im Zusammenhang mit einfachen Sozialbetrugsfällen zu tun, in einem Fall mit einem Waffendiebstahl. Ein eigenes Terrorverdachtsverfahren verlief schnell und überraschend im Sande. Ein zweites Terrorverdachtsverfahren ("Eisbär"), bei dem Ben Ammar als "Nachrichtenmittler" eingesetzt wurde, führte nicht die Berliner Generalstaatsanwaltschaft, sondern die Bundesanwaltschaft zusammen mit dem BKA.

Viele Informationen zu Ben Ammar erreichten die Berliner Oberstaatsanwältin nicht. Dazu zählten Einsätze von V-Personen. Auch das war in der Generalstaatsanwaltschaft Berlin Chefsache, sprich: von Dirk Feuerberg. Eva-Maria Tombrink wusste nicht einmal, dass ihr Vorgesetzter die Causa Ben Ammar aus einem anderen Verfahren kannte. Wurde also auch der Amri-Freund abgeschirmt?

Das legen zumindest die folgenden Entwicklungen nahe. Nach dem Anschlag, Ende Dezember 2016, bezog die Bundesanwaltschaft Ben Ammar zunächst in das Mordverfahren ein. Die weiteren Abläufe sind inzwischen bekannt: Am 3. Januar 2017 wurde Ben Ammar festgenommen, am 4. Januar erging sogar Haftbefehl, doch am 1. Februar wurde er aus dem laufenden Ermittlungsverfahren heraus auf Geheiß der Bundesregierung nach Tunesien abgeschoben.

Das Bundesinnenministerium brachte dazu die Ausländerbehörden auf Linie, das Bundesjustizministerium die Bundesanwaltschaft und die wiederum die Generalstaatsanwaltschaft von Berlin. Die brave Justizsoldatin Tombrink machte mit und verteidigte den Vorgang wie schon im Bundestag so auch jetzt im Berliner Parlament. Sie habe in vollem Umfang dem Generalbundesanwalt (GBA) vertraut.

Zu diesen ganzen Fragwürdigkeiten passt schließlich noch die um das am Tatort aufgefundene HTC-Handy von Amri. Es soll im September 2016 einem Schweizer Bürger in Berlin gestohlen und dann von dem Tunesier Hussein E. an Amri verkauft worden sein. Über das HTC-Handy wurde vor dem Anschlag mit einem IS-Kader im Ausland kommuniziert. Sämtliche Kommunikation davor war gelöscht. Es soll am Tatort auf der Stoßstange des Tat-LKW gelegen haben.

Oberstaatsanwältin Tombrink war mit einem kleinen Teilbereich des Vorganges befasst: Sie sollte verifizieren, ob Hussein E. das Handy an Amri verkauft hatte. Ob es dem rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben wurde, weiß sie nicht, das sei Sache des GBA, der das Breitscheidplatz-Verfahren führt. Ausschussmitglied Niklas Schrader hat nun entdeckt, dass der angebliche Eigentümer des Handys, der Schweizer Erik B., das Telefon zwar bei der Polizei als gestohlen gemeldet, dabei aber eine falsche Adresse angegeben hat: ein Bergdorf in Frankreich, wo er gar nicht gewohnt habe. Tombrink war das nicht bekannt.