Häusliche Gewalt: Paris kündigt Elektroschock-Maßnahmen an

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Auf die "größte Demonstration gegen Gewalt in der französischen Geschichte" reagiert die Regierung mit großen Worten. Die Maßnahmen selbst werden als wenig neu und wirksam kritisiert

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Die Bilanz zur häuslichen Gewalt gegen Frauen in Frankreich fällt übel aus. Gestern gingen über 49.000 Personen allein in Paris und mehrere Tausend in anderen Städten laut Angaben des Cabinet Occurrence, auf das sich Medien auch bei den Gelbwesten-Protesten stützen, dagegen auf die Straße. Die Bewegung #NousToutes, die zu den Veranstaltern gehörte, zählt 100.000 in Paris und 150.000 in ganz Frankreich und spricht von der "größten Demonstration gegen Gewalt in der französischen Geschichte".

Die Regierung stand unter Zugzwang. Sie reagierte heute mit der Ankündigung eines Maßnahmenpakets, die Ministerpräsident Édouard Philippe und die zuständige Ministerin Marlène Schiappa mit "Elektroschock" überschrieb. Bei #NousToutes ist man damit nicht zufrieden. Die Enttäuschung sei angesichts der immensen Erwartungen groß.

Zahlreiche Maßnahmen gebe es schon und man habe ein deutliches Zeichen bei der Finanzierung erwartet. Die versprochenen 361 Millionen Euro für Maßnahmen gegen die "sexistische und sexuelle Gewalt" entsprächen dem Budget vom vergangenen Jahr. "Die Zahlen der Gewalttaten werden nicht zurückgehen", die "Regierung ändert ihren Kurs nicht", so das Fazit von noustoutes.org. Man fordert eine Milliarde Euro jährlich.

Zahlen in Frankreich und Deutschland ähnlich hoch

Laut der nationalen Beobachtungstelle für Gewalt, die sich gegen Frauen richtet (l’Observatoire national des violences faites aux femmes), werden jährlich mindestens 220.000 erwachsene Frauen Opfer von Gewalttaten, die in einer Paarbeziehung geschehen. Für das Jahr 2018 lautet die Bilanz: 121 getötete Frauen in einer Paarbeziehung, in der beide zusammenleben. Bei den Männern werden 28 gezählt, die 2018 durch "häusliche Gewalt" ums Leben kamen. Für das laufende Jahr zählt das collectif Féminicides 138 Frauen, die durch ihren Lebensgefährten oder "Ex" getötet wurden.

In Deutschland berichtet Bundesfrauenministerin Franziska Giffey von mehr als 114.000 Frauen, die im vergangenen Jahr "Opfer von Partnerschaftsgewalt geworden seien. Insgesamt nennt sie für das Jahr 2018 etwa 140.000 Menschen, die von solchen Übergriffen betroffen gewesen seien. Der Frauenanteil unter den Opfern betrage mehr als 81 Prozent. Die Zahl der Frauen, die von ihrem Partner oder Ex-Partner in Deutschland getötet wurden, ist ähnlich hoch wie in Frankreich. Laut Giffey waren es 122 Frauen.

"Jeden Tag findet ein Versuch statt, jeden dritten Tag wird der Versuch vollendet", wird die Bundesfrauenministerin zitiert. "Heute stirbt jeden zweiten Tag eine Frau unter den Schlägen ihres Partners, mit dem sie zusammenlebt", heißt es auf der französischen Regierungsseite.

Sie wurde Anfang September dieses Jahres für die Diskussionsplattform "Grenelle" zur häuslichen Gewalt eingerichtet. Das Format "Grenelle" hat in Frankreich Tradition. Kurz könnte man es als Zusammenkunft von Regierungsmitgliedern mit Vertretern ziviler Organisationen und Experten beschreiben, die Vorschläge zu Maßnahmen erarbeiten.

Zur eingangs erwähnten "üblen Bilanz" kommt zu den schaurigen Opferzahlen noch das Ergebnis eines Gutachtens hinzu, das vor gut einer Woche von der Generalinspektion der Justiz veröffentlicht wurde. Daraus erfuhr die Justizministerin Nicole Belloubet und die Öffentlichkeit, dass "bei annähernd zwei Drittel der studierten Fälle dem gewaltsamen Tod der Frauen Gewalttaten seitens des Täters vorangingen" (Libération).

Große Lücken bei Hilfe, Schutz und Ermittlungen

Nun überrascht diese Beobachtung nicht sonderlich, der neuralgische Punkt bei der genaueren Betrachtung von 88 Fällen durch die Generalinspektion liegt bei der Verhinderung und Aufdeckung dieser Gewalttaten. In 41 Prozent der Fälle, ohnehin ein Prozentsatz weit unter der Hälfte der Betroffenen, hatten die Frauen über die Gewalt berichtet, angezeigt oder "signalisiert", bei der Polizei oder anderen Institutionen. Aber entweder wurden keine Maßnahmen eingeleitet oder sie waren keine Hilfe.

Nur bei 18 Prozent aller Aussagen ("dépositions") zur häuslichen Gewalt gegenüber Vertretern von Behörden erfolgten Maßnahmen von Ermittlern. Die Zeitung Libération notiert hier als mögliche Reaktionen "die Eintragung des beschuldigten Täters in die Akte 'gesuchter Täter', eine Bestandsaufnahme der Vorgänge, die den Gewalttaten vorausgingen, und eine Begleitung der betroffenen Frau bei ihrer Rückkehr nachhause".

Der Bericht der Generalinspektion der französischen Justiz legte große Mängel beim Schutz der Opfer von häuslicher Gewalt offen. Anfang September war Staatspräsident Macron selbst Zeuge dieses Phänomens, als er zu Gast war beim Telefonnotdienst 3919 und eine Anruferin sich beklagte, dass sie vonseiten der Gendarmerie keine Hilfe bekommt.

Ein Gendarm, den sie angerufen hatte, wollte sie nicht nach Hause begleitet, wo sie sich vor ihrem gewalttätigen Partner fürchtete. Der Polizist wurde von der Frau am Telefonnotdienst zwar auf seine Pflichten hingewiesen, weigerte sich aber trotzdem. Macron blieb stiller Zeuge dieses Wirklichkeitsausschnitts, der bei ihm aber laut Medienberichten großen Eindruck hinterließ.

"Die Gesellschaft braucht einen Elektroschock"

Ob er wirklich nachhaltig genug ist, um wirksame Veränderungen zu lancieren, ist am heutigen "internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen" ein Streitthema. Die Regierung hatte die Ankündigung neuer Maßnahmen auf diesen Tag ausgerichtet, das Label "Elektroschock" für das Maßnahmenpaket ("Die Gesellschaft braucht einen Elektroschock") verweist darauf, dass man davon überzeugt war, etwas Nennenswertes an Lösungsvorschläge zur Prävention und Hilfe präsentieren zu können. Der große Beifall blieb bislang aber aus.

Es sind mehrere Maßnahmen, die tatsächlich nennenswert sind, und daneben ein beachtenswerter Versuch, eine Art der psychologische Gewalt in die Rechtsprechung neu aufzunehmen. Das französische Wort dafür heißt "emprise" und wird übersetzt mit "beherrschender Einfluss" oder/und "Macht". Man hat dies in den Fachgesprächen als "häufigen Vorläufer der körperlichen Gewalt" in Fällen der häuslichen Gewalt ausgemacht.

Teilweise Abschaffung des Ärztegeheimnisses, elektronische Überwachung

Das in einem Gesetz unterzubringen, steht als Arbeit noch bevor. An konkreten Maßnahmen wurde angekündigt, dass es pro Region zwei neue Zentren für die Unterbringung von Tätern geben wird, die sich der häuslichen Gewalt schuldig gemacht haben, dass das Notdiensttelefon künftig 24 Stunden an 7 Tagen die Woche besetzt sein wird, dass Vätern das Sorgerecht für ihre Kinder aberkannt wird, wenn sie gewalttätig geworden sind, dass Kinder von einer etwaigen späteren "Unterhaltspflicht" gegenüber ihren Eltern frei gesprochen werde, wenn diese der häuslichen Gewalt schuldig gesprochen werden.

Zu den umstrittenen Maßnahmen gehört die situativ bedingte Abschaffung des Ärztegeheimnisses bei Verletzungen, die auf häusliche Gewalt schließen lassen. Zum technischen Repertoire gehören Maßnahmen zur elektronischen Überwachung. Gemeint sind Sensoren in der Art einer elektronischen Fußfessel, die Entfernungen zwischen den Partnern messen, wenn von einem der Partner körperliche Gefahr ausgeht, und bei Überschreiten einer richterlich oder amtlich festgelegten Grenze die Person, die Angst vor gewalttätigen Übergriffen hat, sowie die Polizei alarmieren.

Auch beim Schulunterricht will man ansetzen. So sollen Lehrer künftig speziell in puncto Gleichheit von Mädchen und Jungen ausgebildet werden. Laut Premierminister Philippe müsse man mit der Prävention schon im jüngsten Alter anfangen.

Zu sehen ist daran, dass die Regierung einen möglichst weiten Horizont abstecken will. Die Detailarbeit steht aber erst noch bevor. Im Januar soll dem Parlament ein neuer Gesetzesvorschlag vorgelegt werden.