"In der Cloud wird viel geklaut"

Über digitale Überwachung und Selbstüberwachung

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"Great progress Jorinde!" lobt die Übernachtungsplattform Airbnb. Mit solchen aufmunternden Kommentaren werden zukünftige Gastgeber durch die einzelnen Schritte zur Erstellung eines Profils geführt. Doch die Plattform kann schnell vom freundlichen Helfer zur drohenden Gouvernante werden: Immer dann, wenn sich der "host" dem Verfügbarkeitszwang entzieht.

Wer zum Beispiel die Sofortbuchungsoption "Instant Book" ausschlägt, weil er sich erst überlegen will, wen er bei sich übernachten lässt, ist mit sanfter, aber penetranter Gegenwehr des Unternehmens konfrontiert. Die voreingestellte Instantbuchungsoption nicht zu wählen, zieht nicht nur permanente Nachfragen, ob man sich wirklich sicher sei, nach sich. Hinweise auf niedrigere Einnahmen und eine geringere Sichtbarkeit bei den lokalen Listungen folgen. Schließlich muss man sich durch ein Zeit raubendes Antwort- und Rechtfertigungsprogramm klicken, bis man die Option ausgeschaltet hat.

"Verfügbarkeitsregime" der digitalen Kommunikation nannte die Politologin Jorinde Schulz solche Mechanismen in ihrem Vortrag auf dem Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie, der sich mit den Schattenseiten der Digitalisierung befasste. Dabei wurden besonders die repressiven und affirmativen Aspekte des Phänomens betont. So konstatierte NGfP-Präsident Klaus-Jürgen Bruder mit der Digitalisierung habe "ein Zeitalter der Überwachung" eingesetzt. Sie sei die "ultima ratio des herrschsüchtigen Diskurses".

Dabei hat sich mit der sogenannten Telematik eine Überwachungstechnik etabliert, von der Psychotherapeut*innen unmittelbar betroffen sind. Seit dem 1.6. 2019 sind sie gehalten, die Stamm- und Abrechnungsdaten ihrer Patient*innen samt Diagnosen mittels eines digitalen Auslesegeräts an die kassenärztliche Vereinigung zu übermitteln. Die "Konnektoren", wie die Auslesegeräte im Fachjargon heißen, müssen von den Behandler*innen selbst bezahlt und gewartet werden. Als Betreiber dieser Vorrichtungen sind sie für deren reibungsloses Funktionieren verantwortlich.

Während in einer Übergangszeit die Verwendung der digitalen Auslesegeräte noch freiwillig war, werden Therapeuten ab dem 1.4. 2020 mit 2,5 % Abzug auf ihr monatliches Gesamthonorar für eine Verweigerung bestraft. Begründet wurde die Einführung der Konnektoren mit dem Argument, dass dadurch Fälschungen von Versichertenkarten unterbunden würden. Für die Psychotherapeutin Hildegard Huschka ist das ein "Scheinargument". Sie könne sich in ihrer 20-jährigen Praxis als niedergelassene Therapeutin kaum an Fälle von Versicherungsbetrug erinnern. "Es geht vielmehr darum, einen gigantischen Datenpool aufzubauen", ist die Psychologin überzeugt.

Das klingt plausibel, wenn man sich vergegenwärtigt, dass neben Psychotherapeuten auch Ärzte, Apotheken und Kliniken ihre Daten per Konnektor an die kassenärztliche Vereinigung übermitteln sollen. "Das wird ein Riesenmarkt sein. Es ist gar nicht vorstellbar, dass Menschen das nicht missbrauchen", warnt Huschka. Hinzu kommt, dass nach dem von Jens Spahn initiierten Digitalisierungs- und Versorgungsgesetz eine zentrale Datenspeicherung in einer Cloud vorgesehen ist.

"In der Cloud wird viel geklaut" witzelt denn auch Günter Steigerwald. Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut ist ein vehementer Gegner der Telematik im Gesundheitswesen. Für ihn geht es dabei um ein gigantisches Finanzierungsprogramm zugunsten der IT-Industrie, das eine Totalüberwachung der Bevölkerung möglich macht. Dabei verweist er auf das enorme Sicherheitsrisiko durch Hackerangriffe. Deshalb will er alles tun, um die endgültige Umsetzung des Programms zu verhindern. Er hat sich mit Kollegen zusammengetan und macht nun im "Arbeitsbündnis gegen Datenmissbrauch in der Medizin" gegen die Telematik mobil. Er verweist dabei auch auf die politisch-geschichtliche Dimension dieses Widerstands, gerade in Deutschland: "Der Führer hätte sich sicher über eine solche Megadatenbank gefreut."

"Unser Strafrecht wird immer mehr zu einem Gesinnungsstrafrecht"

Um Widerstand gegen digitale Überwachung geht es auch Bijan Moini von der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Der Rechtsanwalt und Aktivist will den "digitalen Sicherheitsstaat" durch juristische Interventionen verhindern. So wandte er sich mit einem Verfahren gegen das Bundesnachrichtendienstgesetz an das Verfassungsgericht. Dabei ging es darum, dass der Bundesnachrichtendienst bis 2017 im Ausland Mails mitlas und Telefonanrufe abhörte, mit der Begründung, im Ausland sei dies erlaubt. Grundsätzlich verstößt eine solche Praxis aber gegen das Fernmeldegeheimnis, das im Grundgesetz verankert ist.

Auch die Fluggastdatenspeicherung an deutschen Flughäfen ist Moini ein Dorn im Auge. Diese Daten müssen für fünf Jahre gespeichert werden und können von der Polizei und Bundeskriminalamt jederzeit abgerufen werden. Dabei ist eine noch weitergehendere Überwachung geplant. Das BKA will zukünftig anhand der Verkehrsdaten Muster bei Reisenden analysieren, durch die potientielle Terroristen erkannt werden können. Die solchermaßen als gefährlich eingestuften Personen sollen dann auf Verdacht über lange Zeiträume beschattet werden. "Unser Strafrecht wird immer mehr zu einem Gesinnungsstrafrecht. Leider ist unser Rechtssystem nur unzureichend auf diese Entwicklung eingerichtet", beklagt er. Die Information der Öffentlichkeit über diese Vorgänge ist für ihn und seine Mitstreiter aber schon der erste Schritt zum Widerstand.

E-Mail funktioniert als Überwachungsmechanismus

Während beim Kampf gegen die Telematik oder die Fluggastdatenspeicherung der Gegner relativ leicht im Außen auszumachen ist, sieht dies bei der digitalen Kommunikation ganz anders aus. Hier ist die Überwachung oft auch eine Selbstüberwachung. Das von Klaus-Jürgen Bruder in seinem Eingangsvortrag erwähnte Bauman-Zitat: "Das Genie des Herrschens lässt das Erwünschte von den Beherrschten umsetzen" gilt hier uneingeschränkt. Das machte Jorinde Schulz in ihrer Analyse der techno-affektiven Grunddisposition digitaler Beziehungen deutlich. In der ständigen Bereitschaft, responsiv und verfügbar zu sein und in der gleichzeitigen Vermischung von Arbeit und Intimität, so die Politologin, zeige sich das Muster digitaler Hörigkeit. Diese basiere auf der Angst, nicht zu genügen, wenn man nicht auf Abruf bereitstehe und entspreche perfekt den Anforderungen einer tertiären Arbeitswelt.

Wie deren Verfügbarkeitsregime funktioniert, machte sie neben der schon eingangs erwähnten Übernachtungsplattform Airbnb, am E-Mail-Verkehr, an Messengerdiensten und an der Onlineplattform LinkedIn deutlich. So erzeugt schon allein der Erhalt einer E-Mail im Empfänger ein erhöhtes Stressniveau. Wie die Sozialwissenschaftlerin Melissa Gregg anhand von Interviews zum Mailverkehr im Beruf nachwies, fühlt sich dieser verpflichtet zu antworten, auch wenn sie/ihn die Antwort aus einer konzentrierten Beschäftigung reißt. Der Empfänger antizipiert, dass sich der Schreibende ignoriert fühlt, was bei ihm wiederum Schuldgefühle auslöst.

Eine typische Antwort in Greggs Befragung war: "Ich habe das Gefühl, wenn ich nicht sofort auf eine Mail antworte, glauben die Leute, dass ich sie bewusst ignoriere. Deshalb ist das eine ständige Beunruhigung für mich, bis ich zurückgeschrieben habe." Der Verfügbarkeitszwang der E-Mail liegt in der Möglichkeit zur schnellen Antwort, sofern der Empfänger Internetzugang hat und in der Konvention zur sozialen Reziprozität. "Die E-Mail", so Schulz, "funktioniert so als eine Art Überwachungsmechanismus, der die Verfügbarkeit der arbeitenden Subjekte sichert und sie quasi in vorauseilendem Gehorsam eine Antwort tippen lässt. Um zu gewährleisten, dass man auch keine Anrufung verpasst, muss man ständig Mails checken, was den Verfügbarkeitszwang noch intensiviert."

Messengerdienste wie WhatsApp verstärken diesen Zwang noch, weil sie sofort erkennbar machen, wer wann die App benutzt. Im Facebook Messenger zeigen zum Beispiel grüne Punkte, dass jemand online ist, bei WhatsApp wiederum signalisieren Häkchen, ob eine Nachricht angekommen und ein Farbwechsel dieser Häkchen, ob sie gelesen worden ist. Man erfährt nicht nur, ob eine Person gerade eine Nachricht tippt, sondern auch, wann sie zum letzten Mal im Messenger gewesen ist. So geben WhatsApp und Co. permanent Informationen über das Verhalten des kommunikativen Gegenübers preis.

LindkedIn wiederum beschränkt sich nicht nur auf die berufliche Vernetzung seiner User*innen, sondern nötigt sie, beständig auf der Plattform aktiv zu sein. "Schau, wer Dein Profil angeschaut hat", fordert das Unternehmen die Nutzer auf und mahnt: "Versäume keine Verbindung. Du hast Einladungen, die bald abgelaufen sind!"

Es sind weniger Repressionen, sondern solche subtilen Manipulationen, die die Nutzer auf ständige Ansprechbarkeit trimmen. Dabei findet, so Jorinde Schulz, ein "Intimitätshack" statt: Bewusst werden Kommunikationsformen eingesetzt, die Vertrautheit simulieren. Gerade die joviale Informalität und Distanzlosigkeit, die charakteristisch für die beschriebenen digitalen Interaktionen ist, erzeugt ein Gefühl von Nähe, das die User*innen gegenüber dem Dauerzugriff auf ihr Leben schutzlos macht.

Mit dem psychischen Distanzabbau geht dabei ein physischer einher. Denn in dem Maße, wie die persönlichen, zeitlichen und räumlichen Abstände durch die Nutzung digitaler Endgeräte schrumpfen, scheinen Rückzugsorte zu schwinden, an denen man sich ihnen entziehen kann. So geht die digitale Hörigkeit mit einem charakteristischen Lebensgefühl einher, das von der Wissenschaftlerin folgendermaßen beschrieben wird. "Es ist wie in einer Zelle zu sitzen, die ständig von hundert unsichtbaren Lautsprechern beschallt wird, die man nicht abstellen kann."

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