Herr Söder, wann kommt die Maskenpflicht?

Angesichts neuer Erkenntnisse zur Übertragung in der Luft sind Rücksichten auf das Gespann Laschet/Spahn völlig unangebracht - ein Kommentar

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In Seattle im US-Bundesstaat Washington haben sich 45 von 60 Mitgliedern eines Kirchenchors offenbar während einer Gesangsprobe mit COVID-19 infiziert. Sollte diese in dem Hauptraum der etwa 30m x 30 m x 12 m großen Mount Vernon Presbyterian Church stattgefunden haben, würde dies eine erschreckende Infektiosität des Erregers bedeuten, denn die Teilnehmer hatten Abstand voneinander gehalten, keiner war offensichtlich krank.

Eine Studie aus Belgien und den Niederlanden zeigt ebenfalls, dass ein Sicherheitsabstand von 1,5 m kaum ausreichend ist. Insbesondere neben Joggern und Radfahrern gibt es auch im Freien ein Infektionsrisiko, wie schon ein Marathonlauf in Italien angedeutet hatte.

Wie hier schon öfters besprochen, wird der Ansteckungsweg über die Luft unterschätzt, obwohl es offensichtlich ist, dass z. B. schon Tröpfchen von 6 Mikrometern Durchmesser eine vernachlässigbare Sinkgeschwindigkeit von 1 Millimeter pro Sekunde haben (in einer früheren Version war statt 6 Mikrometer von 160 Mikrometer die Rede). Viel kleinere Tröpfchen können aber schon infektiös sein.

Vorbeugung - der blinde Fleck der Medizin

Im Übrigen ist es angesichts der jahrzehntelangen medizinischen Fortschritts skandalös, wie wenig Augenmerk bisher auf die Erforschung der Übertragung von Krankheitserregern gerichtet wurde (z.B. Toward understanding the risk of secondary airborne infection: emission of respirable pathogens; Droplet fate in indoor environments, or can we prevent the spread of infection?), aber an der Vorbeugung verdient leider niemand etwas.

Deswegen steckt das Verständnis des Ansteckungsweges entgegen der Versicherungen der TV-Virusversteher wie Prof. Streeck ("ganz klar wissen wir, wie das Virus übertragen wird") durchaus in den Kinderschuhen. Insofern müssen sich die prominenten Virologen (hier auch Kekulé und Drosten schon fragen lassen, welche wissenschaftliche Grundlage ihre wochenlangen Versicherungen hatten, das Virus breite sich praktisch nur über Tröpfchen- oder Schmierinfektion aus - was nun durch den Fall von Seattle falsifiziert sein dürfte.

Öffentliche Verharmlosung

Neben der Erkenntnis, dass eigentlich alle Übertragungen unwahrscheinlich sind, fühlte sich Streeck auch noch veranlasst, mit halbgaren Ergebnissen der Heinsberg-Studie die "Durchseuchungsstrategie" unters Volk zu bringen. Wie andere zog er auch den Nutzen eines Mund-Nasen-Schutzes in Zweifel - gegen vorliegende Evidenz. Unabhängig davon ist es aber völlig unstrittig, dass diese Masken die Verbreitung des Virus durch asymptomatische Infizierte wirksam verhindern würde.

Es wird höchste Zeit, dass sich die Politik von solch vermeintlicher Expertise löst und im Rahmen des gesunden Menschenverstandes Vorsicht walten lässt - wie es Litauen, Polen und Österreich mit der Einführung der überfälligen Maskenpflicht getan haben, die der bayerische Ministerpräsident Söder auch schon angedeutet hat. Worauf wartet er? Da inzwischen jedenfalls acht Millionen Schutzmasken in Bayern eingetroffen sind, steht nichts mehr im Wege, pro Haushalt mindestens eine zu verteilen, beispielsweise für den Einkauf im Supermarkt oder die Arbeit in geschlossenen Räumen.

Warum eigentlich kein Alleingang?

Politische Rücksichten auf einen NRW-Ministerpräsidenten, der den Nutzen von Masken offenbar als letzter versteht und die Einführung wohl mit Blick auf den mit ihm verbündeten Gesundheitsminister bremst, der die Beschaffung von Masken versäumt hat, sind unangebracht.

Erstens haben besonders betroffene Bundesländer das Recht und die Pflicht, ihre Bevölkerung zu schützen, und außerdem schadet es nicht, die Wirkung dieser Maßnahme bald zu beobachten. Mit der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln, geschlossenen Räumen und Geschäften könnte auch die Wiederaufnahme des öffentlichen Lebens begonnen werden, wobei in Zukunft auf ausreichende Belüftung besonderes zu achten ist.

Grundrechte nicht vergessen

Die Pflicht zum Maskentragen stellt, wie übrigens der Sicherheitsgurt, einen zumutbaren Eingriff in die Grundrechte dar. Nicht länger vertretbar sind dagegen die vielen allgemeinen Mobilitätseinschränkungen, für deren Nutzen es weder wissenschaftliche noch praktische Evidenz gibt.

Da aufgrund des Infektionsrisikos durch Sport im Freien die Abstandsregeln im öffentlichen Raum verschärft werden müssen - etwa auf 3 oder 5 Meter - ist es sogar unumgänglich, dass sich die Bewohner von Ballungsgebieten, die auch ein Recht auf Bewegung an der frischen Luft haben, auf größere Fläche verteilen. Es wäre auch politisch unklug, wenn sich die Regierung hier bei den Verwaltungsgerichten weiterhin blutige Nasen holt. Neben der Verschärfung der Abstandsregeln sollte Bayern nicht länger zögern, die Maskenpflicht auch im Alleingang einzuführen.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur - Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten" erschien 2019 im Westend-Verlag.

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