Hat die Spanische Grippe Deutschland in den Faschismus geführt?

Ein Ökonom der Federal Reserve Bank of New York will einen Zusammenhang zwischen der Opferzahl 1918-1920 und der Neigung zur Wahl der Nazis in den 1930er Jahren in deutschen Städten gefunden haben

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Die Spanische Grippe, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs in drei Wellen von 1918 bis 1920 die Welt heimsuchte und zwischen 25 bis 50 Millionen Menschen den Tod gebracht und 500 Millionen infiziert haben soll, könnte mit ein Grund sein, dass in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Es ist eine steile These, aber vielleicht in Zeiten der Corona-Epidemie, die gerade besonders heftig in den USA tobt, irgendwie naheliegend, um zu eruieren, wie sich Pandemien langwierig auswirken könnten. Noch freilich kommt Covid-19 bei weitem nicht an die Spanische Grippe heran.

Kristian Blickle, ein Ökonom der Federal Reserve Bank of New York, veröffentlichte eine Studie mit "vorläufigen Ergebnissen", in der er die Influenza-Mortalität 1918-1920 mit gesellschaftlichen Veränderungen auf der Grundlage von Ausgaben von 60 deutschen Städten für Polizei, Feuerwehr, Schulen, Parks, Schwimmbäder, Museen, Theater und andere Einrichtungen (amenities) und der Wahl von extremen Parteien zwischen 1925 und 1933 in Zusammenhang bringt. Vor 1925 liegen keine solchen Daten vor. Berücksichtigt werden auch demografische Daten, Bevölkerungsveränderungen durch den Krieg, Löhne, die in den Städten gezahlt werden, und Arbeitslosigkeit. Deutschland sei ideal für eine solche Untersuchung, da es hier viele Grippetote, aber auch genaue Aufzeichnungen über die Fallzahl die städtischen Ausgaben und das Wählerverhalten gegeben habe. Nach Blickle sind 1918 188.000 Menschen gestorben, 1919 42.000 und 1920 57.000.

So wurde in Städten, in denen die Bevölkerung durch die Grippe stärker schrumpfte, im darauf folgenden Jahrzehnt pro Kopf weniger für die oben angegebenen "amenities" ausgegeben. In Städten mit weniger Grippetoten erhöhten sich die Ausgaben. Möglicherweise waren hier die Steuereinnahmen größer, könnte man meinen, aber das scheint nicht wirklich zuzutreffen. Austerität erhöhe die Neigung zum Rechtsextremismus. Blickle stellte fest, dass eine höhere Zahl von Grippetoten mit einem wachsenden Teil der Wahlstimmen für die NSDAP in den entscheidenden Wahlen von 1932 und 1933 korreliert. Weniger deutlich sei dies bereits in der Wahl 1928 zu sehen. Der Zusammenhang bestehe auch, wenn man die ethnische und religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung, Arbeitslosigkeit, frühere Wahlstimmen für rechte Parteien etc. berücksichtige.

Fördern Pandemien den Nationalismus?

Für andere Parteien wie für die Kommunisten oder für andere Erkrankungen wie Tuberkulose, die zur selben Zeit ähnlich vielen Menschen den Tod gebracht hat, gebe es diesen Zusammenhang nicht. Auch nicht für Unfälle. Ursachen, die für massenhafte Todesfälle verantwortlich sind, führen vielleicht nur dann zu gesellschaftlichen oder politischen Veränderungen, wenn sie über eine Gesellschaft hereinbrechen, aber nicht, wenn man sie als gegeben betrachtet.

Die Neigung zur Wahl rechtsextremer Parteien ist in solchen Gebieten stärker, in denen Minderheiten, speziell Juden, im Mittalalter für Seuchen verantwortlich gemacht wurden. Es könne auch einen Zusammenhang mit der Art der Opfer geben. Da die Spanische Grippe im Gegensatz zu Covid-19 besonders unter jüngeren Menschen Todesopfer gefordert hat, könnte der dadurch bedingte demografische Wandel auch das Wählerverhalten mit beeinflusst haben. Nicht belegt ist auch die Vermutung, dass die Grippe den Fremdenhass genährt hat, wie dies etwa in Zeiten der Pest der Fall gewesen war. Die Gefahr kommt immer aus dem Ausland, das war auch bei Covid-19 wieder eine Stimmung, die insbesondere Donald Trump forciert hat.

Wenn es denn zutrifft, dass in den Städten, die stärker von der Grippe betroffen waren, ein Jahrzehnt später vermehrt die NSDAP gewählt wurde, während weniger Ausgaben pro Kopf erfolgten, dann ist die Frage, welche Schlüsse man daraus ziehen soll oder kann. Zumal auch in den 1930er Jahren die Menschen auf dem Land deutlich stärker die Nazis gewählt hatten als die Städter, in Ostpreußen waren es 60 Prozent, im Ruhrpott weniger als 35 Prozent.

Blickle selbst will aus seinen Ergebnissen keine Schlussfolgerungen ziehen, er sieht sie nur als Diskussionsbeitrag für langfristige Folgen von Pandemien. Was in seinen Untersuchungen fehlt, sind Informationen darüber, ob es zufällig ist, welche Städte stärker von der Grippe betroffen waren, oder ob es dafür sozioökonomische oder demografische Erklärungen geben könnte. Dass Covid-19 aufgrund der verordneten Verhaltensge- und -verbote und den massiven wirtschaftlichen Einbrüchen langfristige Folgen haben wird, steht außer Zweifel. Auch dann, wenn die Folgen weniger durch die Gefährlichkeit der Pandemie, als durch die Gegenmaßnahmen verursacht werden.

Werden wir also, was die Studie suggeriert, in den Regionen, die am stärksten von der Pandemie hinsichtlich der Opferzahlen betroffen wurden, einen Gang ins ausländerfeindliche Rechtsextreme erleben? Oder insgesamt einen Drift zum Rechtsextremen oder Völkisch-Nationalem? Das war freilich schon vor der Pandemie angelegt und wahrscheinlich auch verstärkt durch die Finanzkrise 2008 und die "Flüchtlingskrise". Wäre es womöglich ein Mittel, dem Gang ins Rechtsextreme Einhalt zu gebieten, wenn Staaten und Kommunen nicht auf Sparen setzen, sondern mehr Geld in das Wohl und auch die Sicherheit der Bürger investieren? Womöglich auch dadurch, die Kluft von Arm und Reich durch höhere Besteuerung der Reichen abzubauen?

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