"Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer"

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Ein paar Gedanken zur Genesis von Verschwörungstheorien

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Die allererste Verschwörung war die von Eva und Adam, angestiftet durch die Schlange (also den Teufel), gegen Gott. Die Menschen wollten sein wie ER, IHN also entthronen - worauf der Chef vom Garten Eden die beiden Aufmüpfigen vor die Tür setzte. Doch die Schlange, so die allererste Verschwörungstheorie, war zuvor noch in anderer Weise kreativ geworden: Sie hatte mit Eva den Kain gezeugt. Der ist also ein Sohn des Teufels, und nur Bruder Abel, später von Kain gemeuchelt, ist Adams Sohn. Kain wurde zum Urvater wahlweise der Freimaurer, der Illuminaten oder der Reptilienmenschen. Das Böse war in die Welt gesetzt als genetischer Defekt.

Das Teufels-Gen: Bosheit aus Prinzip

Das grundlos Böse gehört zum feststehenden Mem von Verschwörungstheorien. Da hat das Christentum ganze (Vor-)Arbeit geleistet mit seinem Gut-Böse-Dualismus. Der Kampf Gut gegen Böse (und umgekehrt) erfolgt a priori, die Fragen nach Motivationen und Interessen erübrigen sich, die Frage nach der Relativität der beiden Begriffe grenzt gar an Ketzerei. Das ist nicht finsteres Mittelalter, sondern Gegenwart.

Das Gut-Böse-Schema hat nicht nur bis heute überlebt, sondern wird von Kirchenleuten, Horrorfilmern, Massenmedien und Politikern gehätschelt und aktiv verbreitet. Wir erinnern uns an Kampfbegriffe wie Schurkenstaaten, Achse oder Reich des Bösen, aber auch Lügenpresse und Verschwörungstheoretiker. Alles Schwarz-Weiß-Gemälde, dualistische Anti-Denk-Muster, verführerisch wegen ihrer Einfachheit, aber ungeeignet, das bunte Knäuel weltlicher Beziehungen und Interessen zu entwirren. Das Gut-Böse-Schema ist damit aber auch ein verlässlicher Marker, mit dem sich echte (also falsche) Verschwörungsmythen von möglicherweise zutreffenden Verschwörungshypothesen abgrenzen lassen.

Verschwörung oder Herdentrieb?

Nein, es ist noch keine Verschwörung, wenn viele das gleiche sagen oder tun. Es kann einfach nur das Richtige und Angemessene in dieser Situation sein. Wenn es das Falsche ist, nennt man es Herdentrieb. Wenn Geschäftemacher den Preis von Atemschutzmasken in die Höhe treiben, steckt dahinter meist nur das gleiche Profitinteresse unterschiedlicher Akteure, die sich nicht mal kennen. Manchmal steckt aber auch unerlaubte Preisabsprache dahinter, was dann das Kartellamt auf den Plan rufen sollte. Manchmal gibt es eben doch Verschwörungen.

Oft aber verdeckt der Verschwörungsverdacht den Blick auf die eigentlichen, systembedingten Ursachen kritikwürdiger Entwicklungen. Dann bekämpft man die falschen Feinde. Dieser Artikel konzentriert sich deshalb auf die Frage, wo die gegen-aufklärerischen, weil eng personal fokussierten und pauschal diffamierenden Verschwörungstheorien - zur Abgrenzung oft Verschwörungsmythen genannt - ihre Ursachen haben und ihren Nährboden finden. Deren Verbreitung soll ja mit der Corona-Krise massiv zugenommen haben, und die mehr oder weniger hilflosen Erklärungsversuche dazu schießen derzeit ins Kraut.

Magisches Denken als Emanzipation

Gehen wir noch einmal zurück zu den Anfängen der Menschheit, diesmal jenseits der Legenden, zu den einigermaßen gesicherten Erkenntnissen der Anthropologie. Danach waren die ersten religiösen Vorstellungen der Frühmenschen animistisch. Sie sahen die Welt als belebt mit Geistern und Dämonen, Feen, Trollen, Zwergen und Riesen, Donnervögeln und Schlangengöttern, schrieben Pflanzen und Tieren Gedanken und Gefühle und jedem Stein eine Seele zu.

Es gibt unterschiedliche Theorien darüber, wie es zu solchen Vorstellungen kam. Meiner Meinung nach projizierten die frühen Menschen ihre eigenen Fähigkeiten in dem Maße, wie sie sich deren bewusst wurden, auf die belebte wie unbelebte Natur. Wer sprechen kann, meint, alle müssten ihn verstehen, auch die Tiere und Pflanzen. Wer eine Sprache verstehen kann, könnte meinen, alles spräche zu ihm. Diese romantische Illusion der Einheit von Ich und Welt wiederholt sich im Zeitraffer in der frühkindlichen Entwicklung zwischen etwa 2 und 5 Jahren, genannt Magisches Denken, und überlebt zudem in manchen Naturvölkern und esoterischen Zirkeln.

Der evolutionäre Vorteil solcher Vorstellungen ist: Sie heben den Menschen aus seiner Ohnmacht gegenüber dem "blind" waltenden Schicksal heraus. Mit Naturgewalten kann man ebenso wenig verhandeln wie mit Krankheit und Tod. Mit Geistern und Dämonen, die selbst Gewalt über die Natur haben, schon. Man kann sie beschwören, ihnen Opfer bringen, zu ihnen beten. Man kann sie besänftigen, ihnen drohen oder sie auch bestrafen, wie Xerxes angeblich das Meer auspeitschen ließ, als es zwei Schwimmbrücken für seinen Feldzug nach Griechenland zerstört hatte.

So paradox es klingt: Der Glaube an Übernatürliches erniedrigt die Gläubigen nicht, sondern bringt sie im Gegenteil erst einmal auf Augenhöhe zu einer bedrohlichen Umwelt, der sie sich sonst hilflos ausgeliefert fühlten. Das ist - vielleicht - der eigentliche Ursprung aller Religionen. Jede böse Absicht eines Dämons oder Gottes ist besser zu ertragen als die Willkür des Zufalls. Und vielleicht war das anscheinend unverdiente Unglück ja doch die Strafe für eigenes Fehlverhalten? Das Potential für Erziehung wie Unterdrückung ist natürlich im Geister- und Gottesglauben immer schon angelegt.

In erster Linie ist die Mutmaßung, dass hinter undurchschaubaren Geschehnissen mächtige oder gar dämonische Akteure stecken, jedoch ein Akt der Emanzipation. Und ein erster Schritt zur Vernunft. Der zweite, entscheidendere Schritt heißt in der westlichen Ideengeschichte Aufklärung, er entspricht beim Kind dem Übergang vom magischen Denken zum rationalen Denken.