Erosion der bürgerlichen Freiheiten

Bild: Janneke

Inwieweit die für smart cities nötige KI und Standards wie 5G grundsätzlich zu einer umfassenden Militarisierung des Alltags führen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im ersten Teil des Textes - Totale Telematik - ging es um die Frage, inwieweit das von Eric Schmidt verkündete "tele-everything" zu einer "Unwirtlichkeit" der im Dienst der Seuchenbekämpfung durchdigitalisierten Städte führt. Solche Städte werden zwar smart cities genannt, erzeugen aber ganz uncharmant "Budenangst": Fluchtreflexe vor einem home-office, das Kasernenzwang ausübt.

Der zweite Teil widmet sich daher der näheren Untersuchung, inwieweit die für smart cities nötige KI und Standards wie 5G grundsätzlich zu einer umfassenden Militarisierung des Zivilen führen.

Vieles von dem, was Anders Riel Müller beobachtet hat, findet sich in aktuellen Dokumenten von Arbeitsgruppen bestätigt, die unter dem Vorsitz von Eric Schmidt an denselben Fragestellungen arbeiten. Im "Interim Report" der National Security Commission on Artificial Intelligence (NSCAI) vom November 2019 heißt es auf Seite 12 unter der Überschrift "Erosion der Privatsphäre und der bürgerlichen Freiheiten":

Neue KI-Instrumente bieten Staaten größere Möglichkeiten, ihre Bürger oder die anderer Staaten zu überwachen und zu verfolgen. Während die Daten der Bürger für rechtmäßige und legitime Zwecke verwendet werden sollten, könnte die die Verbreitung neuer Datenquellen - wie z.B. solche Daten, die durch intelligente Städte generiert werden oder durch intelligente Polizeiarbeit - das Risiko von Menschenrechtsverletzungen oder Verstößen gegen die Privatsphäre erhöhen. Während Chinas Einsatz von KI-Überwachungsinstrumenten zwar hinreichend gut dokumentiert ist, darf nicht vergessen werden, dass mindestens 74 weitere Länder ebenfalls in KI-getriebene Überwachung investieren, darunter viele liberale Demokratien.

NSCAI-Report, November 2019

Wenn es gegen China geht und den geplanten Export des Sozialpunktesystems, ist man aus gutem Grund hellwach und kritisch (siehe auch "Überwacht: Sieben Milliarden im Visier"). Doch der kritische Impuls am Anfang des mehr als 100seitigen Papiers schwindet bald ins Marginale angesichts epischer Darstellungen verlockender technischer Möglichkeiten.

Durch die Verbesserung von Durchsatz-Geschwindigkeit, Volumen und Latenz werden 5G-Netzwerke eine Verbesserung der Fähigkeiten zum Informationsaustausch sowohl im Verteidigungs- als auch im kommerziellen Kontext bewirken. 5G-Infrastruktur wird die Verbreitung von KI-gestützter Technologie vorantreiben, den Betrieb von remote-devices, autonomen Fahrzeuge, intelligenten Städten und Haushalten, die mit dem Internet of Things verknüpft sind. Mit zunehmender Fähigkeit, Algorithmen des maschinellen Lernens lokal (on device) zu verarbeiten, ist 5G dazu in der Lage, als die Netzwerk-Layer zu dienen, die AI-fähige Systeme miteinander verknüpft. Die in 5G-Netzen erzeugten Daten können wiederum zur Verbesserung von KI-Systemen genutzt werden, die den Datenbesitzern einen signifikanten Vorteil verschaffen.

NSCAI-Report, November 2019

Und im zweiten Bericht des NSCAI vom März 2020 ist dann auch keine Rede mehr von den Gefahren der Erosion der bürgerlichen Freiheiten. Es geht gleich steil los auf Seite 2:

Die außerordentlichen, anhaltenden globalen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bestätigen nur, dass die Kommission flexibel bleiben und schnell handeln muss. Die Bemühungen, das Virus zu verfolgen und zu verstehen - und entsprechend einen Impfstoff zu entwickeln - legt nahe, sich an das Versprechen der KI zu halten, dass sie die Nation schützen kann am Knotenpunkt zwischen Technologie, Gesundheit und nationaler Sicherheit.

NSCAI-Bericht, März 2020

Das ist bereits jenseits des Zivilen, die unredigierte Sprache des Militärs.

Es braucht nur eine anständige Krise und schon schnappt die KI-Falle zu - diesen gleitenden Übergang vom zivilen Nutzen einer Technologie in seine militärische Anwendung und sein im Ernstfall hohes Tempo habe ich lange vor COVID in dem Telepolis-Beitrag Auto-Nomie beschrieben.

Mit 5G in die Schlacht ziehen

Warum fällt insbesondere den US-Amerikanern so leicht, diese Grenze zwischen Zivilem und Militär zu überschreiten? In einer Kultur, die ihren Ursprung einem Genozid verdankt, ist es natürlich nicht verwunderlich, dass alle staatstragenden Aktivitäten, auch die Arbeit der Konzerne, auf Verteidigung ausgerichtet sind.

Insofern erklärt sich die enge Zusammenarbeit zwischen plattformkapitalistischen Unternehmen und dem Pentagon von selbst. Staatstragend zu sein, ist unter den Bedingungen einer potentiell allgegenwärtigen Bedrohung durch die Opfer des Genozids (Angst vor deren Rache) ein Überlebenssystem, keine Frage der Ideologie. Es ist vielmehr eine aus der Geschichte hervorgegangene, eingebildete, aber dauerhaft gefühlte Notwehrsituation.

Doch die Ansteckungsgefahr ist bei solchem Gedankengut hoch - auch in Gesellschaften wie den europäischen, von denen wir eigentlich erwarten sollten, dass ihre mehrere Jahrhunderte zurückreichende Tradition der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit durch ein liberales Bürgertum ausreichend befestigt ist. So haben der Telekommunikationsausrüster Huawei und das Beratungsunternehmen Deloitte gemeinsam im März 2020 das Whitepaper "Combating COVID-19 With 5G" publiziert. Nicht "eindämmen" will man die Ausbreitung des Virus, sondern gleich gegen ihn "in die Schlacht ziehen". Der neue Mobiltelefonie-Standard als Waffe.

In Europa ist das Papier - trotz, oder, man möchte sagen, vielleicht sogar wegen seines martialischen Titels - bei bestimmten Leuten gleich auf fruchtbaren Boden gefallen. Sätze wie "Das ermöglicht eine Rund-um-die-Uhr Überwachung von Körpertemperatur sowie die Bild-, Bewegungs- und Kontakt-Verfolgung, sobald dies erforderlich ist" gemahnen nicht von ungefähr an die "find, fix and finish"-Strategie der gezielten Tötungen mit Drohnen.

Nicht ganz überraschend kommentiert der amtierende EU-Industrie-Kommissar, vormals Vorsitzender und CEO des Militärdienstleisters ATOS und Science-Fiction Autor, Thierry Breton ("Computerkrieg - ein Spionagethriller aus der Welt der Informatik", siehe Militärischer BUMMER), zum Huawei-Deloitte Whitepaper:

Die Kommission schließt Maßnahmen wie das Nachverfolgen der Bewegungen von Einzelpersonen, den Einsatz von Technologie zur Bewertung des Gesundheitsrisikos einer Einzelperson und das zentralisierte Speichern sensibler Daten nicht grundsätzlich aus.

Thierry Breton

Die Rede vom "Verteidigungs- oder gar Angriffsvorteil" durch KI läuft schon länger um. Mit dem finanziellen Einstieg des IARPA ins Cyber Valley Tübingen, den Telepolis-Autor Christoph Marischka am 15. Mai 2020 öffentlich machte, hat die schon bestehende Verkettung von deutscher Spitzenforschung mit der US-amerikanischer Verteidigungs- und Geheimdienstarbeit, sowie Daimler, Amazon und der deutschen Rüstungsfirma ZF einen weiteren Höhepunkt erreicht.

Selbstlosigkeit

Es bleibt eine Frage offen: Warum reißen sich all die Unternehmen so sehr darum, uns armen, oft mittellosen Bürgern zu helfen, die unter einer Krankheit leiden, die uns ans Haus bindet. Wir sind doch gar kein gutes Geschäft! Oder?

Woher kommt der Antrieb für die Sorge um andere, für diejenigen, die schwerer betroffen sind als wir selbst? Die Gesellschaft, insbesondere aber ihre Eliten geben vermehrt vor, sie kümmerten sich um ihre schwächeren Mitglieder, die von der "Krise" stärker betroffen seien als "wir selbst". Die geballte Kraft der Vorsorge ist auf die höher Gefährdeten gerichtet. So verkauft uns die Regierung derzeit jede Maßnahme zur Einschränkung der Freiheit: Wir verzichten zugunsten des Schutzes der Risikogruppen. Die Abwendung der Bedrohung von denen, die nicht die Kraft besitzen, sich selbst zu schützen, ist unser wichtigster Auftrag in der Schlacht gegen den unbekannten Feind.

Gleichzeitig hören wir, die Herstellung eines Impfstoffes sei wenig rentabel. Aus reiner Fürsorge für die Weltgesundheit stemmen die Wohltäter der Menschheit das Verlustgeschäft? Hätten nicht all die großen Stiftungen jeweils ein zweites Rückgrat in der Finanzwelt und würden sie nicht dort auf den Erfolg ihren eigenen karitativen Aktivitäten wetten, wäre der "Giving Pledge" in Zeiten von Null- und Minus-Zins ein ruinöses Unterfangen. So aber lässt sich zumindest noch ein wenig Vermögen "kaskadieren", um das Gemeinwohl zu fördern.

Das Prinzip "Selbstlosigkeit" nennt die Verhaltensforschung "Altruismus". Man kümmert sich um jemanden, der hilfsbedürftig ist und tritt freiwillig davon zurück, selbst zuerst bedient zu werden. Es gibt aber Anreize. Der Altruist profitiert in der Regel selbst.

Wie gelangt an so zentraler Stelle die Idee der Uneigennützigkeit in unseren krisengeschüttelten Alltag? Altruismus nimmt heutzutage verschiedene Formen an. Philanthropie, die sich in Stiftungen manifestiert, mit denen Milliardäre gigantische Summen Steuern sparen, gehört ebenso dazu wie das global verordnete Krisen-Schutzprogramm für eben gerade jene Bevölkerungsgruppen, die zuvor durch Sozialabbau in die Schutzlosigkeit getrieben wurden.

In der bestimmenden Ordnung unserer Kultur, der Wirtschaftsordnung selbst, findet sich hingegen kein blasser Abglanz der Idee von Selbstlosigkeit oder Rücksicht. Im Einklang mit der herrschenden brutalen Pokermentalität des Casinokapitalismus, die allein der unberechtigten Bereicherung frönt, findet sich die karitative Form des Pokerns, die Menschenliebe der Superreichen, gleich neben dem Lippenbekenntnis der Herrschenden zur "christlich-liberalen" Verpflichtung. Die (pekuniären) Vorteile des Altruismus liegen auf der Hand.

Teure Signale

Vor 20 Jahren erschien in der Telepolis eine Rezension des von mir herausgegebenen Buches "Hyperorganismen". Darin befand sich ein Artikel von Amotz Zahavi, in dem der Zoologe die Vorteile des Altruismus beim Brutverhalten beobachtete und, in schlagender, doch bis heute umstrittener Weise, auf den Menschen anwendete. Das von ihm entdeckte "Handicap-Prinzip" besagt, dass "teure Signale" und scheinbare Vergeudung von Energie eine besondere "Stärke" demonstrieren.

Wer nun in Zeiten der Pandemie die Sorge um die so genannten Risikogruppen kritisch betrachtet, kommt nicht umhin, die Recherchen von Zahavi als Vorläufer zu einer Theorie des neoliberalen Katastrophismus zu werten: der Schock-Strategie, die darauf zielt, Konkurrenz auszuschalten.

Katastrophismus bedeutet, dass durch Abbau und Zerstörung regiert wird. Neoliberal meint, dass die soziale Rolle des Staates zurücktritt gegenüber der Bedeutung der Wirtschaft. Der Staat tritt nurmehr als strenger Vater, in der Rolle der autoritären Exekutive auf. Schock meint, mit Verweis auf Walter Benjamins Lesart des Begriffes ohne "S" und ohne hinten eingefügtes "c", Chok meint die überraschende Begegnung mit dem Unbekannten, nicht Erwarteten, Überraschenden.

Chockhaftigkeit ist zunächst einmal eine Großstadterfahrung. Sie hat mit Beschleunigung, Reizüberflutung, mit nervösen (Lebens-)Rhythmen zu tun.

Das Bedürfnis, sich Choc-Wirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren ... Veränderungen, ... wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.

Walter Benjamin