Trump: 99 Prozent der US-Corona-Infektionen "total harmlos"

Screenshot, Video Weißes Haus

Der US-Präsident führt bei seinen Reden zum Unabhängigkeitstag eine weitere Kostprobe seiner ausgrenzenden Parallelwelt vor

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Dem Land geht es nicht wirklich gut. Die hohe Arbeitslosigkeit, der deutliche Anstieg der Corona-Infektionen und Proteste gegen Rassismus bestimmen seit einigen Wochen die öffentlichen Diskussionen in den USA. US-Präsident Trump ging in seinen beiden Reden zum nationalen Feiertag, am 4. Juli, in abgehobener und zugespitzter Weise darauf ein.

Es waren Wahlkampfreden, angelegt wurden sie von Stephen Miller, der auch bei der spektakulären Antrittsrede Trumps am 20. Januar 2017 maßgeblich am Skript beteiligt war. Miller hat, ähnlich wie sich andere in der Trump-Administration Iran als Kontrastmittel für eigene Profilierungen gewählt haben, die Immigration und den Kulturkampf gegen radikale Linke ganz im Geiste von Steve Bannon als Pulsgeber.

So waren die beiden Reden Trumps, zuerst am Freitag am Mount Rushmore und dann am Samstag im Garten des Weißen Hauses, davon gekennzeichnet, dass sie den konkret vorliegenden Problemen weit aus dem Weg gingen, weil damit keine Begeisterung zu erwecken ist. Stattdessen sollten die Reden einen Spirit heraufbeschwören, der Trump ins Weiße Haus gebracht hat. Die alte Energie sollte neu in Gang gebracht werden angesichts der schlechten Zahlen, die sich auch in den Umfragen widerspiegeln, die Trump schlecht aussehen lassen. Die Fahne des nationalen Populismus wurde wieder ausgerollt.

Das zeigt sich unter anderem auch darin, dass Trump beständig von einem Virus aus China spricht. Dass er damit auch Kräfte bestärkt, die für 832 "anti-asiatische Zwischenfälle" allein in den letzten drei Wochen in Kalifornien sorgten, nimmt er in Kauf.

Warnung vor "radikalen Linken" und Wegbügeln von Covid-19-Risiko

Zwei Kernaussagen aus den Reden machten gestern die Runde im News-Zirkel: die Warnung vor einer radikalen Linken, den "Marxisten, Anarchisten, Agitatoren, Plünderern und den Leuten, die in vielen Bereichen keine Ahnung haben was sie tun" und Trumps Niederbügeln der Risiken durch Sars-CoV-2:

Nun, da wir fast 40 Millionen Personen getestet haben, zeigen wir Fälle - wovon 99 Prozent total harmlos sind - und Ergebnisse, wie es kein anderes Land bieten kann. Weder was die Zahl der Tests anbelangt noch was deren Qualität betrifft.

Donald Trump

Abzusehen war, dass diese Bemerkung die größte Aufregung verursachte. Ihre Absicht ist klar, der Anstieg der Infektionszahlen seit der Wiedereröffnung des "Business", das eng mit Trumps Chance auf eine Wiederwahl verbunden ist, muss als Risiko wegerklärt werden. Vor einem Monat lag die Zahl der Neuinfektionen bei 20.000, am vergangenen Donnerstag waren es 57.000: "Die täglichen Infektionen steigen in 40 von 50 Staaten", wie ihm politische Gegner vorrechnen.

Bekanntlich variieren Einschätzungen zur tödlichen Gefahr, die von Covid-19 ausgeht, aber die Behauptung, dass 99 Prozent der Ansteckungen "harmlos" seien, was einschließt, dass Infizierten also bis auf 1 Prozent auch von schwereren Erkrankungen verschont bleiben, verblüfft in ihrer Dreistigkeit. Sie wurde nicht auf einer Party gemacht, sondern bei einer "großen Rede" zum Unabhängigkeitstag.

Für bislang über 132.000 Personen in den USA ist eine Erkrankung im Zusammenhang mit Covid-19 tödlich verlaufen. Das ist als absolute Zahl viel, weit mehr als in anderen Ländern. Diese Fälle in einer Rede, in der es um den Geist der Nation geht, herunterzuspielen, ist besonders bitter, umso mehr als die Aussparungen des US-Präsidenten Methode haben. Dabei geht es ihm um die Ausblendung konkreter Wirklichkeiten in den USA.

Mögen sich die 1.300 Wissenschaftler der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der vergangenen Woche auf einen Konsens geeinigt haben, wonach die Todesrate von Infizierten, die als "Infection fatality rate" (IFR) bezeichnet wird, bei etwa 0,6 liege, so liefert dies keine Entlastung für den US-Präsidenten.

Die Ermittlung einer verlässlichen IFR-Zahl ist in der Dauerdiskussion, weil die genaue Erfassung der Infizierten besondere Probleme bereitet, wenn Personen mit hineingenommen werden sollen, die zwar mit dem Virus angesteckt sind, aber keine Symptome zeigen - sie mit hineinzunehmen, würde die Todesrate verkleinern.

Meist wird eine andere Größe, die "Case fatality rate", zu Deutsch: der Fall-Verstorbenen-Anteil oder die Fallsterblichkeit herangezogen. Hier sind die bekannt gewordenen Infektionsfälle sowie Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 die Berechnungsgrundlage. Für die USA ergibt dies bei gegenwärtig 2.983.142 bekannt gewordenen Infektionsfällen und 132.571 Todesfällen im Zusammenhang mit Covid 19 eine Fallsterblichkeit von 4,44 Prozent. Beim Anteil der Todesfälle pro 1 Million Einwohner fällt die USA mit einem Wert von 400 auf. Der rangiert laut Worldinfometer weit oben (allerdings hinter Belgien, Großbritannien, Spanien, Italien, Schweden und Frankreich).

Der US-Präsident müsste sich die Lage in seinem Land vor Augen halten, wenn er von einer harmlosen Corona-Situation plaudert. Dazu zeigt sich ein interessanter Widerspruch: Die Fallsterblichkeit wird sich wahrscheinlich abschwächen, wenn man Dunkelfälle ins Bild hinzunimmt, um dem auf den Grund zu gehen, bräuchte es aber mehr Tests. Das lehnt Trump jedoch in öffentlichen Erklärungen ab, in denen er behauptet, dass die Zahlen in den USA genau deshalb so groß erscheinen, weil es so viele Tests gebe, weswegen er diese "verlangsamen wolle". Image ist alles?

Aussparungen und Risiken

Bei den Covid-Erkrankungen zeigen sich laut der US-Gesundheitsbehörde bekannte Phänomene: Besonders oft müssen schwierige Fälle unter den älteren Bürgern ins Krankenhaus gebracht werden. Bei den "65-Jährigen und älter" waren es statistisch bis zum 27.Juni 306,7 aus 100.000 in dieser Altersgruppe und 155,0 aus 100.000 von den 50- bis 64-Jährigen.

Diese Zahlen passen genauso wenig in die Trump-Landschaftsmalerei von der "harmlosen Corona-Infektion" wie die Feststellung, dass es Minderheiten wie Schwarze und Latinos besonders trifft. Nach aktuellen Zahlen der New York Times sind 23 Corona-Virus-Fälle von insgesamt 10.000 "Weiße", 62 Fälle sind "Schwarze" und 73 "Latinos".

Die Älteren, die Schwarzen, die Latinos wie auch sozial und wirtschaftlich schlechter gestellte Weiße haben nicht nur ein größeres Erkrankungsrisiko, durch ihre Arbeit, die Wohnverhältnisse, das Fehlen einer Krankenversicherung, sondern auch bei der Arbeitslosigkeit, der anderen bösen Seite der Corona-Krise. Trump sparte auch diese Realität bei seinen beiden Auftritten aus, stattdessen summierte er die Proteste unter Mobs, die Denkmäler niederreißen und mit einer "kulturellen Revolution" niedermachen würden, was man aufgebaut hätte.

So schlägt der US-Präsident nun einen "Garten mit neuen Heldenstatuen" vor, während im Hintergrund die Vorteile der reicheren Schichten zementiert werden. Der Trend beim Hilfsprogramm für die Pandemiekrise, dem CARES Act, der Ende des Monats ausläuft, geht derzeit dahin, die außerordentlichen Arbeitslosenunterstützungen - 600 Dollar Extra in der Woche - zu kürzen. Stattdessen wird der Fokus nun mehr auf Unternehmen gerichtet, damit sie mehr Menschen in Arbeit bringen und auf diejenigen, die schon Arbeit haben.

Das wird zunächst ausgrenzende Wirkungen haben, zum anderen aber wird befürchtet, dass sich die gut vernetzten Unternehmen an dem großen Hilfspaket überproportional mehr gütlich tun können als diejenigen, die aus Trumps Amerika-Bild ausgespart bleiben: "Je weniger alte Arbeiter über Social Security und Medicare Geld vom Staat beziehen, desto mehr können diese Programme ausgehöhlt werden und das Geld in Kanäle geführt werden, von denen letztlich private Vermögen profitieren."