Superspreader bei Tönnies identifiziert

Die Wohnsituation der Werksarbeiter war offenbar kaum am Corona-Ausbruch im Kreis Gütersloh beteiligt, im Tönnies-Stammwerk wurde jetzt die Übertragung durch Aerosole über mehr als acht Meter nachgewiesen

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Die Produktion am Stammsitz des Schlachtkonzerns Tönnies im Kreis Gütersloh war nach einem Corona-Ausbruch vier Wochen lang auf Eis gelegt worden. Nach der fieberhaften Überprüfung des Hygienekonzepts und etlichen Schutzvorkehrungen durfte der Fleischkonzern im ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück den Betrieb vor einer Woche in Teilen wieder hochfahren. Zu den vereinbarten Maßnahmen gehört auch die weitere Testung der Mitarbeiter.

In dem Hauptwerk des Fleischverarbeitungsriesen sollen sich am Ende 1.413 von 6.139 Personen mit SARS-CoV-2 infiziert haben. Nach jüngsten Angaben von NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) ordnen die Behörden dem Ausbruch bei Tönnies mehr als 2.000 Fälle zu. Die zeitweise Betriebsschließung sei rechtens gewesen, das Unternehmen habe keinen Anspruch auf Lohnkostenerstattung. Das sieht Firmenchef Clemens Tönnies anders und führt die Corona-Infektionen auf die Kühlanlage des Fleischwerks zurück, aus seiner Sicht gibt es keine schuldhaften Versäumnisse.

Meterweite Übertragung durch Aerosole

Die Kühlung wurde in der Tat eingehend untersucht und zum (Mit-)Urheber erklärt, dies kann jedoch kaum als Entlastungsvorwand dienen. Wie eine eingehende Rückverfolgung des Übertragungsgeschehens bei Tönnies zeigt, hat wohl ein einziger Mitarbeiter in der Rinderzerlegung (Index-Patient B1, dessen Identität nicht bekanntgegeben wird) für die Verbreitung des Virus gesorgt. Das Virus wurde dann auf mehrere Personen im Umkreis von mehr als acht Metern im Betrieb übertragen.

Wie das genau passierte, zeigt eine diese Woche vorab veröffentlichte wissenschaftliche Analyse, die detailliert auf die Verhältnisse in der Produktion eingeht und die Verbreitungswege unter die Lupe nimmt.

Die gemeinschaftliche Studie haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf (UKE), des Helmholtz-Zentrums (HZI) und des Leibniz-Instituts für Experimentelle Virologie (HPI) durchgeführt. Im Ergebnis zeigt sich, dass der SARS-CoV-2-Ausbruch im Unternehmen nicht, wie bisher angenommen, in den Unterkünften der Arbeiter seinen Ursprung hat, sondern am Arbeitsplatz in der Produktion, genauer gesagt: im Zerlegebereich für Rinderviertel.

"Index-Patient B1" arbeitete demzufolge in der Frühschicht zusammen mit 147 Kollegen, die meisten von ihnen an einem festen Punkt einer 32 Meter langen und 8,5 Meter breiten Halle. Die Forscher rekonstruierten die genaue Position des Infizierten und die der Arbeiter in seiner Umgebung.

Das Infektionsgeschehen

Innerhalb von drei Tagen infizierten sich überwiegend Mitarbeiter in der Umgebung von 8 Metern von B1. Etwas Derartiges konnte weder in den Unterkünften, Schlafräumen noch etwa auf PKW-Parkplätzen der Firma nachgewiesen werden, so dass das Infektionsrisiko hier als nachrangig eingestuft wurde. Es könne einzelne sekundäre Infektionen gegeben haben, doch die Mehrzahl der Betroffenen hat sich der Studie zufolge am Arbeitsplatz infiziert.

Und dort waren sie definitiv virushaltiger Luft ausgesetzt. Die Klimaanlage nämlich bläst von der Decke kalte Luft in die Halle - Luft, die dann von Ventilatoren weitergeleitet und verteilt wird. Die Klimatisierung teilt die Produktionshalle auf die Weise effektiv in Zonen auf, in denen Luft ständig umgewälzt wird. In der auf 10 Grad Celsius gekühlten Halle gibt es zudem eine geringe Frischluftzufuhr, und auch die körperlich anstrengende Arbeit wird als Faktor genannt. Durch die verstärkte Atmung hat sich das Infektionsrisiko offenbar zusätzlich gesteigert.

Das Forschungsteam hat Gensequenzen der bei Tönnies nachgewiesenen Viren ausgewertet. Durch die Genom-Analyse konnten die Forscher ermitteln, dass sich Index-Patient B1 zusammen mit einem Kollegen B2 vermutlich bei befreundeten Angestellten des Fleischunternehmens Westcrown in Dissen angesteckt hat, bei dem es zuvor schon zu einem Ausbruch gekommen war. Interessanterweise förderte die Untersuchung noch etwas anderes zutage: Das Virus wies nämlich Mutationen auf, die später bei den Viren aller weiteren Mitarbeiter der Frühschicht gefunden wurden. Bei Index-Patient B2 gab es eine Abweichung, die später nicht mehr auftauchte. Damit schied B2 als Überträger aus.

Neue Kombination von acht Mutationen

Die Forscher aus Hamburg und Braunschweig betonen, dass die Wohnsituation der Werksarbeiter keine wesentliche Rolle beim Ausbruch von COVID-19 in Rheda-Wiedenbrück gespielt habe. Melanie Brinkmann, Professorin und Forschungsleiterin am HZI in Braunschweig, zur Studie:

Unsere Studie beleuchtet Sars-CoV-2-Infektionen in einem Arbeitsbereich, in dem verschiedene Faktoren aufeinandertreffen, die eine Übertragung über relativ weite Distanzen ermöglichen. Es stellt sich nun die wichtige Frage, unter welchen Bedingungen Übertragungsereignisse über größere Entfernungen in anderen Lebensbereichen möglich sind.

Melanie Brinkmann, Forschungsleiterin am HZI

Die Auswertung der Virussequenzen zeige, dass sich alle SARS-CoV-2 positiv getesteten Personen aus dem Infektionscluster im Mai 2020 eine neue Kombination von acht Mutationen teilen, die zuvor noch nicht beobachtet worden war. Die Studienergebnisse sind vorerst auf der Preprint-Plattform SSRN erschienen, eine Publikation mit Peer Review-Verfahren soll folgen.

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