Corona-Sommertheater

Bild: Francesco Ungaro/Pexels

Medien dramatisieren Anstieg der Neuinfektionen - Altmaier droht mit höheren Strafen für Fehlverhalten - In Berlin demonstrieren laut Polizei-Angaben 17.000 gegen Corona-Politik. Die Veranstalter sprechen von wesentlich mehr. Update

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Wirtschaftsminister Peter Altmaier ist beunruhigt. Nichts fürchten Unternehmer und Wirtschaftsverbände mehr als einen neuen Shutdown. Das Angstwort geht wieder neu herum, die Zahlen Neuinfizierter steigen, aber man müsste doch in den letzten Wochen gelernt haben, damit gefasster umzugehen?

Der viel beschworene Leichtsinn bewegt Altmaiers Sorge und, wie bei Erziehern und Politikern angesichts unvernünftigen Verhaltens üblich, lobt er die einen - "Die ganz große Mehrheit der Bevölkerung verhalte sich nach wie vor außerordentlich verantwortlich", zitiert ihn die dpa - und droht den anderen mit Strafen:

Was wir im Augenblick an Risikoanstieg erleben, geht im Wesentlichen zurück auf das achtlose und manchmal auch unverantwortliche Fehlverhalten einer sehr kleinen Zahl von Menschen. (…) Das müssen wir wirksamer als bisher unterbinden und in Fällen, bei denen es deshalb zu Infektionen und Ausbrüchen kommt, wirksam ahnden: Das schließt Bußgelder und Strafen mit ein, wenn es sich um Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit handelt.

Peter Altmaier, SZ/dpa

Wer andere absichtlich gefährde, müsse mit "gravierenden Folgen" rechnen, so der Wirtschaftsminister, der befürchtet, dass der gerade beginnende Aufschwung der Wirtschaft gefährdet würde. Man dürfe einen erneuten Anstieg der Infektionen nicht hinnehmen. Er konkretisierte Tatbestände: "Wer ohne Maske Bus oder Bahn fährt, gefährdet nicht sich selbst, sondern andere." Oder: "Wenn eine Party in einer engen Kellerkneipe unter Verstoß gegen alle Abstands- und Hygienevorschriften zum Super-Spreading-Event wird …."

Das sei keine Lappalie und müsse "notfalls" auch bestraft werden, fährt er fort. Wie hoch er die Strafen ansetzen würde, dafür gab Altmaier keine Orientierung. Er hofft anscheinend, dass die Drohung allein genug Machtwort ist. Geht es um ihren Geldbeutel, so werden die Bürger aufgeschreckt, hieß früher eine politische Weisheit.

Hinter seiner Drohung stecken Befürchtungen aus der Wirtschaft, dass die Regierung wieder zu Maßnahmen greifen könnte, die die Krise verstärken. Basis seiner Drohung sind die ansteigenden Infektionszahlen.

7-Tage-Inzidenz

955 neue Corona-Infektionen meldet das RKI am heutigen 1. August (0 Uhr), am Freitag lag diese Zahl bei 870. Das RKI fürchtet eine "Trendumkehr", wie RKI-Chef Lothar Wieler kürzlich äußerte (Eine zweite Welle oder eine einzige große Welle?). Als Grund wird Nachlässigkeit bei der Einhaltung der sogenannten AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmasken) angeführt.

Dass Zahlen von Neuinfektionen, die sich der 1000er-Marke annähern, einen Effekt haben, ist ein Aspekt. Aber das RKI selbst hat seit einigen Wochen einen anderen Rahmen gezogen und einen anderen Fokus aufgestellt, um das Risiko beurteilen zu können, nämlich die sogenannte 7-Tage-Inzidenz. Die Vorgabe lautet, wenn diese Zahl höher als 50 pro 100.000 liegt, dann ist Anlass zur Beunruhigung und für Maßnahmen.

Laut RKI steht diese Kennziffer am 1. August bei 5,1. In keinem der Bundesländer ist sie zweistellig. Dennoch sind die Medien voll von Katastrophen-Alarmen; ob das nun prophetische Weitsicht ist oder einfach die Generierung von Lesern, ein Geschäft mit der Angst, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Proteste in Berlin

Auf 15.000 Teilnehmer soll die Menge in Berlin am Samstagnachmittag gegen 15 Uhr laut Medienberichten angewachsen sein, die dort gegen die "Corona-Politik" der Bundesregierung demonstrieren - nach einer "Zähl-Schätzung" von Telepolis-Autor Thomas Moser, der bis 13 Uhr 15 bei der "Demo Unter den Linden" vor Ort war, bestand der Demozug, der 70 Minuten lang vorbeizog, aus "50.000 - 60.000 Teilnehmern".

[Update: Die Berliner Polizei hielt trotz solcher Wahrnehmungen von Augenzeugen an niedrigen Zahlen fest. Wie die Tagesschau am Samstagabend berichtete, sprachen die Veranstalter selbst von 1,3 Millionen Menschen, während die Polizei selbst in Spitzenzeiten "nur bis zu 20.000 Teilnehmer" angibt.

Das ist eine ziemliche Kluft, die hitzig diskutiert wird. Die Polizei hatte mindestens einen Hubschrauber im Einsatz; sie musste sich eigentlich einen genauen Überblick verschaffen können. Bildmaterial, Filme wie Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln, die im Netz zu sehen sind, widersprechen der Darstellung der Polizei und deuten, wie Aussagen von Teilnehmern, darauf, dass die Zahl von 20.000 Teilnehmern der Proteste in Berlin weit überschritten wurde. Wie weit ist noch nicht klar. Auch die Angaben der Organisatoren von 1,3 Millionen Teilnehmern sind eine politische Botschaft. Verlässlich belegte Zahlen stehen noch aus, sollte es sie jemals geben...]

Bis zum Abend werden noch sehr viel mehr Teilnehmer erwartet, die, oft ohne Einhaltung der AHA-Regeln, auf ihre Freiheitsrechte aufmerksam machen. (Allerdings hieß es gegen 15 Uhr, dass der "Aufzug, der sich von der Straße Unter den Linden in Richtung Brandenburger Tor bewegte", vom Veranstalter beendet wurde. Laut dem Berliner Tagesspiegel "geht der Protest aber weiter").

Beobachter des Tagesspiegels berichten von einer Mischung aus Feier und Demonstration, die Loveparade wird als Referenz herangezogen. Zur Nervosität Anlass gibt, dass rechte und Rechtsaußen-Gruppen politisches Kapital aus der Kritik an den Maßnahmen schlagen wollen - und dass Teilnehmer Zeichen von Paranoia und einer verzerrten Sicht auf die Wirklichkeit zeigen. Großes Sommertheater in Berlin?

Vom Anlass der Kritik her gesehen nicht. Einige Gerichtsurteile der jüngsten Zeit bestätigten, dass Maßnahmen der Regierung unverhältnismäßig waren und die Vernunft nicht auf ihrer Seite hatten, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Das zeige sich im Kleinen:

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat ebenfalls schon im Juni die Corona-Sperrstunde in Bayern außer Vollzug gesetzt. Warum man sich nach 22 Uhr im Wirtshaus eher anstecken soll als vor 22 Uhr, erschien den Richtern nicht nachvollziehbar. Mit ähnlichen Argumenten könnte man gegen die in Bayern nach wie vor andauernde Schließung von Kneipen und Bars vorgehen, meint Rechtsanwalt Alexander Lang, dessen Würzburger Kanzlei gegen die Sperrstunde geklagt hatte. Dass man sich beim Trinken eher ansteckt als beim Essen, liegt nicht unbedingt auf der Hand.

SZ

Und das laufe im Großen - wenn man den Grundsatz vor Augen habe, dass nämlich das Grundgesetz für die Freiheit als Regel und die Einschränkung als Ausnahme stehe - auf die Einsicht hinaus, "dass das kalkulierte Risiko letztlich die zentrale Kategorie für den Umgang mit Corona ist".