Nawalnys Vergiftung ähnelt auch mit der Reaktion der deutschen Regierung dem Fall Skripal

Bild Alexey Nawalny: Evgeny Feldman / CC-BY-SA-4.0

Auch im Fall Skripal wurde die Substanz nicht bekannt gegeben und wirkte das angeblich tödlichste Nervengift erst spät

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Nach der gestrigen Erklärung der Bundesregierung hat das Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr in München Proben des russischen Oppositionspolitikers Nawalny analysiert und "zweifelsfrei" festgestellt, dass es sich um einen chemischen Kampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe handelt. Die Charité hatte zwar von einer Vergiftung gesprochen, aber das Gift nicht finden können, das Bundeswehrlabor teilt nun aber auch nicht mit, welche Substanz identifiziert wurde. Die Bundeswehr bzw. das Institut gaben bislang keine genaueren Angaben.

Der russischen Regierung wurden angeblich, wie Ria Novosti berichtet, keine näheren Informationen von der deutschen Regierung übergeben. Kreml-Sprecher Peskow erklärte, in Russland seien keine Hinweise auf ein Gift gefunden worden. Man habe aus Deutschland keine weitergehenden Informationen erhalten, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Die Generalstaatsanwaltschaft habe einen Antrag auf Rechtshilfe nach Berlin geschickt, ohne bislang darauf eine Antwort erhalten zu haben.

Als im Skripal-Fall vom britischen Defence Science and Technology Laboratory in Porton Down untersucht worden waren, wurde auch nur von Nowitschok gesprochen, aber nicht von der konkreten Substanz. Zur Nowitschok-Gruppe gehören mehr als 100 Substanzen. Angeblich soll es A-234 gewesen sein. Schon damals wurde vermutet, dass das Labor die Substanz deswegen nicht angegeben hat, weil damit bekannt würde, dass es selbst über diesen Kampfstoff verfügt. Allerdings erklärte der Leiter des Labors, man könne den Ursprung des bei Skripal identifizierten Nervengifts nicht angeben, es sei mit "extrem ausgeklügelten Verfahren" hergestellt worden, was "wahrscheinlich" auf einen Staat verweise (Herkunft des Nowitschok-Nervengifts unbekannt). Die britische Regierung hinderte dies nicht, weiter mit dem Finger nicht nur auf Täter aus Russland, sondern auch auf den Kreml zu zeigen, wie dies gerade jetzt auch wieder geschieht.

War es wirklich Nowitschok?

Der binäre Kampfstoff Nowitschok gilt als das tödlichste Nervengift, das bislang entwickelt wurde. Es wurde von sowjetischen Wissenschaftlern in militärischen Geheimlabors erfunden, aber nach dem Ende des Kalten Kriegs durch Beteiligte schnell bekannt gemacht. Seitdem ist es auch im Westen bekannt, der BND hatte beispielsweise Proben in den 1990er Jahren erhalten und sie auch weitergereicht. Später hat einer der Entwickler, Vil Mirzayano, darüber auch ein Buch veröffentlicht. An der Existenz gibt es aber auch Zweifel.

Die OPCW hatte den Befund des britischen Militärlabors bestätigt, aber sprach nur von einer "toxischen Chemikalie", die allerdings sehr rein sei. Streit gab es in der OPCW, weil der damalige Leiter der Organisation behauptet hatte, es seien 50-100 Gramm beim Anschlag verwendet worden. Ein Sprecher der Organisation musste seinen Chef korrigieren. Es sei nicht möglich, die Menge des Nervengifts abzuschätzen oder zu bestimmen. Die Menge müsste man wahrscheinlich in Milligramm angeben (OPCW kritisiert den Direktor).

Verwunderlich war bereits bei den Skripals, warum das angeblich so gefährliche Nervengift, das zum schnellen Tod führen soll, diesen nicht herbeigeführt hat. Die Skripals gingen, nachdem sie das Haus verlassen hatten, wo sie die mit Nowitschok angeblich bestrichene Türklinke berührt haben sollen, erst einmal ein paar Stunden in der Stadt herum, bevor sie auf einer Bank zusammensanken. Julia und Sergei Skripal, die seit langem untergetaucht sind, haben den Anschlag ebenso überlebt wie ein Polizist, der ihnen zu Hilfe gekommen war und kontaminiert wurde. Wladimir Uglew, einer der Wissenschaftler, die an der Entwicklung beteiligt waren, hatte damals gesagt, dass die Skripals keine Überlebenschancen hätten, wenn sie in Kontakt mit Nowitschok gekommen waren, es sei denn, die Medizin habe seitdem erhebliche Fortschritte gemacht.

Uglew äußerte sich auch jetzt wieder. Nach seiner Meinung könne man Sarin, Soman und Nowitschok ausschließen, da bei einer Temperatur über 20 Grad und der hohen Inhalationstoxität auch in der Nähe von Nawalny befindliche Personen vergiftet worden wären. Das würde freilich nur zutreffen, wenn Nawalny das Gift nicht getrunken oder über die Haut aufgenommen hätte und dass er erst im Flugzeug damit in Kontakt gekommen wäre, es also schnell gewirkt hat. Life.ru zitiert Alexey Vinnikov, Oberstleutnant der RChBZ-Truppen (ABC-Abwehr) in Reserve, der sagt: "Die meisten Nervenwirkstoffe zeichnen sich durch eine extrem hohe Penetrationsrate in die Atemwege aus. Dies ist buchstäblich eine Frage von wenigen Minuten. Eine Person kann nicht nur nicht in ein Flugzeug steigen. Die Substanz beginnt sofort zu wirken und lähmt die Atemwege. Aufgrund dessen, was passiert ist, hält die Version mit Substanzen aus der Gruppe Nowitschok der Kritik nicht stand - das Opfer war zu lange bei Bewusstsein."

Die klinische Diagnose der Ärzte im Krankenkaus in Omsk soll, wie Interfax berichtet, auf eine "Störung des Kohlenhydratstoffwechsels, eine damit einhergehende chronische Pankreatitis und eine Verschlimmerung (Exazerbation) von dieser basieren.

Nawalnys Vergiftung ist "sehr exotisch"

Meduza hat ein Interview mit dem Biochemiker Marc-Michael Blum geführt, der das Team leitete, das im Auftrag der OPCW in Salisbury und Amesbury Untersuchungen durchführte. Er geht nicht davon aus, dass Nawalny in Omsk deswegen zurückgehalten wurde, damit das Gift sich nicht mehr nachweisen lässt. Ob das Gift im Tee war, den er im Flughafen zu sich genommen hat, sei nicht sicher, er könne auch schon zuvor in Kontakt gekommen und erst später, wie bei den Skripals, zusammengebrochen sein. Wenn er das Gift aber auf der Haut hatte, würde es auch gefährlich für die Personen gewesen sein, die um ihn herum waren. Möglich wäre, dass es sich um ein Pestizid gehandelt habe, aber das müsste in größerer Menge eingesetzt werden, würde aber auch schon in 10-15 Minuten wirken.

Es sei durchaus möglich, dass die Substanz nicht identifiziert werden kann, weil die Konzentration sehr klein sein dürfte. Wenn es sich um ein militärisches Nervengift handeln sollte, müsse man davon ausgehen, dass der Anschlag tödlich sein sollte. Wenn es ein Pestizid oder etwas anderes war, könnte man vielleicht vermuten, dass der Anschlag eine Warnung sein sollte. Aber Blum sagt auch, dass es bessere Gifte gebe, die schneller wirken und schlechter zu entdecken sind, wenn man wirkliche Person töten wolle. Nawalnys Vergiftung sei "sehr exotisch".

Assuming it’s a military nerve agent, I would say it’s definitely an attempt to kill. You can’t fine-tune it. With these kinds of compounds, you basically have a curve where you start seeing effects at a certain dose and then they die at the next dose. With the nerve agents, this window is extremely small. Between the first symptoms and death, the window is very narrow. It’s wider with the pesticides. You’ll see symptoms, but you’ll still need a lot more of the stuff to actually kill you. That’s also true for some other inhibitors. That’s why I say it’s important to see which poison was used.

Marc-Michael Blum