Tunesien: Das politische Kräftespiel und der Auswanderungsdruck

Graffiti in Tunis. Bild: Alwin Nagel/CC BY-SA 4.0

Demokraten und Progressive sehen sich Islamisten gegenüber sowie autoritären, polizeistaatlichen Reaktionären, die vordergründig laizistisch sind

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Tunesien bleibt das Land, das - was den Zustand der dortigen Demokratie betrifft - bisher die besten Ergebnisse unter denjenigen Ländern erzielt, die an der Welle von Revolten und politischen Umwälzungen des Jahres 2011 beteiligt waren. In anderen Ländern wie Ägypten und Syrien muss der Aufbruch, der damals in Europa unter dem Sammelbegriff des "Arabischen Frühlings" behandelt wurde, als gescheitert gelten.

Unterdessen darf nicht vergessen werden, dass im Jahr 2019 eine zweite Welle von Revolten begann, vor allem in Algerien, im Sudan, im Libanon und im Irak. Während dabei in Algerien bislang noch das alte Regime an der Macht blieb und die Entwicklung insbesondere im Libanon derzeit offen ist, scheint sich die Situation im Sudan unter der dortigen Übergangsregierung weitgehend zum Positiven zu entwickeln.

Die rechtliche Stellung von Frauen wurden gegenüber der Situation unter dem alten Regime, einer durch Islamisten unterstützten Militärdiktatur, radikal verbessert, und am 31. August wurde nun auch noch ein Friedensabkommen für den langjährigen Konfliktschauplatz in Gestalt der Provinz Darfur unterzeichnet. Die bisherige Entwicklung verlief also keineswegs überall nur negativ.

Was die Länder des Umbruchs von 2011 betrifft, kann, wie eingangs festgestellt, vor allem Tunesien als Beispiel einer gelungenen Demokratisierung gelten. Dies verhinderte in den letzten Monaten und Jahren nicht eine gewisse politische Instabilität, welche sich allerdings nicht in Gewalt niederschlug (zwar gibt es dschihadistische Anschläge, diese kommen jedoch ebenfalls in Europa vor und werden auch in Tunesien keineswegs durch die Bevölkerung unterstützte), sondern etwa im Absturz von politischen Parteien bei Wahlen sowie in sozialen Protesten.

Radikal abgestürzt ist etwa die Sammelsuriums- und Karrieristenpartei Nidaa Tounès (ungefähr "Appell Tunesiens"), die 2012 gegründet wurde, 2014 die Regierungsgeschäfte übernahm, seitdem in mehrere Bruchstücke zerfiel und bei den Parlamentswahlen im Oktober 2019 von der Bühne gefegt wurde.

Das Hauptproblem Tunesiens bleibt die ökonomische Lage, weil viele Investitionen nach dem Umbruch von 2011 abgezogen wurden - einige Kapitalanleger zog es etwa ins "stabilere", nach wie vor durch eine Monarchie regierte Marokko -, weil infolge der anfänglichen Verunsicherung und infolge jihadistischer Attentate im Jahr 2015 sowie aktuell der Corona-Pandemie der Massentourismus zurückging. Und weil die dominierenden politischen Parteien nach dem Umbruch von 2011 es sträflicherweise unterließen, auch an einer ökonomischen Alternative zum Bestehenden zu arbeiten, womit Tunesien allerdings nicht allein steht.

Nun hat Tunesien, mal wieder, eine neue Regierung. Am 02. September gewann sie die Vertrauensabstimmung im Parlament und erhielt 134 von insgesamt 217 möglichen Stimmen. Ihr steht als Premierminister der 46jährige, bisherige hohe Beamte Hichem Mechichi vor; ihn hatte Staatspräsident Kaïes Saïed (62) am 25. Juli dieses Jahres mit der Regierungsbildung beauftragt.

Dieses Ergebnis hatte im Vorfeld als ungesichert gegolten, zumal sich auf der Zielgerade Staatspräsident und künftiger Premierminister in die Quere zu kommen schienen, ja allem Anschein nach im Konflikt miteinander lagen. Auch für die nähere Zukunft werden mögliche Reibereien zwischen dem Regierungssitz in der Kasbah (Altstadt von Tunis) und dem "Palast von Karthago", wo das Staatsoberhaupt residiert, erwartet.

Die Ernennung von Mechichi zum Anwärter auf den Posten des Regierungschefs - unter der Bedingung, eine parlamentarische Mehrheit zusammenstellen zu können - durch den Präsidenten folgte auf den am 15. Juli erfolgten Rücktritt des bisherigen Premierministers Elyes Fakhfakh. Jener demissionierte auf den Tag genau fünf Monate nach der Vorstellung seines Kabinetts. Genauer gesagt, nach dem ersten Versuch dazu. Denn zwar publizierte Fakhfakh am 15. Februar eine Minister-Liste.

Doch drohte daraufhin die islamistisch orientierte Partei En-Nahdha ("Wiedergeburt, Renaissance") - diese stellt seit den Parlamentswahlen vom Oktober 2019 die stärkste Einzelfraktion, erhielt jedoch damals mit 19,6 Prozent weniger als ein Fünftel der abgegeben Stimmen, ein Ausdruck der allgemeinen parteipolitischen Zersplitterung - ihm damit, seiner Regierung ihr Vertrauen zu verweigern.

Rückblick auf die Regierung Fakhfakh

In ihr war En-Nahdha von vornherein mit sechs Ministern vertreten, jedoch wollte die Partei erzwingen, dass die von Ex-Präsidentschaftskandidat Nabil Karoui angeführte Partei Qalb Tounès ("Im Herzen Tunesiens", vormals "Tunesische Partei für den soziale Frieden") ebenfalls an der Regierung beteiligt werde. In Ermangelung eines besseren Begriffs können Karoui und Qalb Tounès mit einer zwar unscharfen und abgenutzten, doch häufig für sie benutzten Bezeichnung als "populistisch" bezeichnet werden.

Im Vorjahr war Karoui vor allem dadurch bekannt geworden, dass er einen Gutteil seiner Kampagne zur Präsidentschaftswahl, bei der er dann als Zweiter abschnitt, vom Gefängnis aus betrieb. Dorthin hatten ihn Vorwürfe finanzieller Unregelmäßigkeiten gebracht.

Letztendlich musste das damalige Kabinett doch ohne die Herzens-Truppe auskommen, und En-Nahdha fügte sich in der zweiten Februarhälfte dieses Jahres in diese Entscheidung, um eine sonst drohende Auflösung des Parlaments zu verhindern. Die parteipolitische Basis der Regierung fußte - neben En-Nahdha - auf mehreren Kleinparteien, die in zwei Koalitionen aus je einem halben Dutzend Formationen zusammengeschlossen sind, dem "Demokratischen Block" sowie La Réforme. Hinzu kommt die gerne "konstruktiv", doch inhaltsleer auftretende Partei Tahya Tounès ("Es lebe Tunesien" oder "Tunesien lebt") unter Youssef Chahed, der selbst von 2016 bis Anfang 2020 als Premierminister amtierte, doch dann scheiterte.

Am 15. Juli 20 jedoch stolperte Regierungschef Fakhfakh über den Vorwurf von "Interessenkonflikten". Der ausgebildete Ingenieur, der neben der tunesischen auch die französische Staatsbürgerschaft innehat, besitzt Anteile - laut der Publikation Middle East Eye im Wert von fünfzehn Millionen Dollar - in Firmen, die wirtschaftliche Verträge mit dem Staat unterhalten.

Ihm wurde aber aus den Reihen des Parlaments auch mangelnde Transparenz bei der Verwendung der für die Bewältigung der Corona-Krise im Staatshaushalt eingeplanten Millionensummen vorgeworfen. Ab dem 04. April konnte Fakhfakh zwei Monate lang mit Sondervollmachten regieren, um Tunesien durch die Krise zu bringen, und eine Woche nach Beginn dieser Periode wurde ein Kredit über 750 Millionen Dollar beim IWF aufgenommen. Abgeordnete warfen ihm Unklarheit über den Verbleib von Geldern sowie eine Gefährdung der Zukunft des Landes durch die Neuverschuldung vor.

Elyes Fakhfakh kam seiner drohenden Absetzung jedoch durch seinen Rücktritt zuvor. Darum kam es zu einer mit verfassungsgerichtlich geführten, im Kern jedoch politisch motivierten Auseinandersetzung: Jene Parteien, die einen Misstrauensantrag ins Parlament einbrachten, vertreten die Auffassung, sei ein solcher Antrag gestellt, blockiere dies die Rücktrittsprozedur, und der Regierungschef könne nicht wirksam sein Amt von selbst aufgeben. Auf dem Spiel steht dabei die Befähigung dazu, durch Herausbildung einer parlamentarischen Koalition Einfluss auf die Ernennung seines Nachfolgers zu nehmen. Artikel 97 und 98 der seit 2014 geltenden Verfassung, oder ihre jeweilige Interpretation durch die politischen Parteien, stehen einander dabei entgegen.

Nach herrschender Auslegung behält der Staatspräsident, also derzeit Kaïs Saïed, im Falle eines Rücktritts seines Premierministers das Initiativrecht zur Ernennung eines designierten Nachfolgers oder einer Nachfolgerin, der oder die sich dann eine parlamentarische Mehrheit suchen kann und dies innerhalb der gesetzten Frist zusammenstellen muss. Dies entfällt im Falle eines Sturzes durch eine Parlamentsmehrheit, in einem solchen Szenario behält Letztere selbst das Heft in der Hand. Kaïs Saïed machte also von seinem Recht Gebrauch und designierte am 25. Juli mit Mechichi den als Technokrat geltenden und parteilosen, bisherigen Innenminister.

Darüber hinaus steht auch ein allgemeinerer Konflikt im Hintergrund: Saïed strebt erklärtermaßen nach einer Präsidialisierung der Regierung, einer Überwindung des Parteiensystems und seiner Ersetzung durch per Mehrheitswahlrecht gewählte lokale Repräsentanten, die ein neues Regierungssystem außerhalb der Parteien errichten sollen.

En-Nahdha, die vor allem auf parlamentarischer Ebene über Machtpositionen verfügt und diese gefährdet sieht, will diesen Bestrebungen widerstehen. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 hatte En-Nahdha aufgrund dessen konservativer gesellschaftspolitischer Auffassungen Saïed gegen Karoui unterstützt, baut nun jedoch auf eine Allianz mit Qalb Tounès, um den amtierenden Präsidenten in seine Grenzen zu weisen.