Europas "Schande"?

Ein Kommentar zu Moria und der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik

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Nach dem Brand von Moria schafft es das Mitleid mal wieder in die Mainstream-Presse und in die Gesichter der Regierenden. Wie es sich gehört, allerdings dosiert. Unerträglich sei die Situation - für die Kinder. Und einige hundert unbegleitete Minderjährige dürfen sogar fort. Erwachsene haben mit einem abgebrannten Slum, fehlenden Decken und nichts zu essen anscheinend weniger Probleme.

Diese Art menschliches Elend gehört zur geltenden Weltordnung inzwischen wie der Topf zum Deckel. Die UN zählen jedes Jahr mehr davon und die Verantwortlichen wissen, dass es nicht mehr aufhört. Sie schaffen mit ihrer Wirtschaftsordnung, den Erfolgen ihrer Unternehmen und ihrer Staatenkonkurrenz ja die Verhältnisse, die überall in der Welt die Lebensgrundlagen der Leute zerstören. Sie wissen das - und selbstverständlich wollen sie die Opfer - inzwischen mehr als 70 Millionen - von ihren Standorten und liebenswerten bunten Gesellschaften fernhalten. Das "Sozialamt der Welt" kann Deutschland nach eigener Auskunft schlicht und ergreifend nicht sein - was durchaus wahr ist bei all den Opfern, die es jetzt produziert und in Zukunft noch produzieren wird.

Zum Glück schaffen es aber sowieso nur wenige nach Europa, weil EU-Deutschland mit Frontex, einem Deal mit Erdogan und Abkommen mit den libyschen Warlords ziemlich effektiv dafür gesorgt hat, "uns" die meisten vom Leib (und in Drittwelt-Staaten fest) zu halten. Die regelmäßig anfallenden Toten im Mittelmeer und die Horrorzustände in libyschen Gefängnissen gehören zur "Festung Europa" deshalb seit Jahren dazu.

Wer es unter diesen Umständen dann aber doch nach Europa schafft, wird so abschreckend wie möglich behandelt - diese Botschaft muss und geht in die Welt. Eine 2. Welle nach dem Muster von 2015, diesem Unglücksfall der europäischen Geschichte, darf es keinesfalls geben - von wegen "Willkommenskultur"! Moria mit all seinen Schrecken ist also nicht "Versagen" der europäischen Flüchtlingspolitik, sondern bewusst eingesetztes Mittel.

Der jetzige Brand ist die unter diesen Umständen schon lange erwartete Katastrophe. Und auch hier steht für die Regierenden bei allen Krokodilstränen sofort fest: Nun darf keinesfalls überstützt gehandelt werden (Seehofer). Die paar tausend Flüchtenden auszufliegen und aufzunehmen, geht nicht. Das erlaubt unser "großes deutsches Herz" vielleicht bei einem Nawalny. Aber in diesem Fall keinesfalls, da unser klarer deutscher Verstand weiß, dass dann 1. überall Flüchtlingslager angezündet würden, um die Aufnahme zu erzwingen, und 2. die Rechten in Europa nur Wasser auf ihre Mühlen bekämen und eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik noch weiter nach hinten rücken würde.

Was gesteht man damit über die Situation der Verzweifelten ein, wenn man sie für willens hält, das eigene Leben durch Brandstiftung in Gefahr zu bringen, um den Lagern zu entfliehen? Und was über Unterbringung, Versorgung und Behandlung dieser Leute, wenn diese inzwischen lieber auf der Straße vegetieren als sich noch einmal von den guten Europäern in ein Gefängnis sperren zu lassen?

So läuft es also im christlich-abendländischen und/oder menschenrechtlich-vorbildlichen Europa: Freiheit (für's weltweite Geschäft) und westlich dominierte Weltordnung schaffen die Hungerleider und Kriegsflüchtlinge; ein paar Humanisten beweinen die Opfer und kümmern sich um diejenigen, die es gegen alle Grenzzäune, modernste Abwehrwaffen und Schengenrecht noch hierher schaffen. Selbst einige CDU-Bürgermeister machen mit und tun sich im munteren Wettstreit mit Politikern aus CSU oder SPD mit wohlmeinenden Vorschlägen hervor - es gibt also auch Gelegenheit für schöne Bilder und für die Profilierung von Trägern europäischer Grundwerte.

Denn das ist natürlich durchaus wichtig: Gerade angesichts des praktisch-zynischen Umgangs Europas mit den Opfern seiner Politik ist es unerlässlich, dass das Fähnchen der Moral hoch gehalten wird. Schließlich lieben es die europäischen Außenpolitiker (und die deutschen Grünen tun sich da am allermeisten hervor!), ihre Interessen und ihre An- wie Einsprüche gegenüber anderen Nationen im Namen der "unveräußerlichen Menschenrechte" zu begründen - ob im Kosovo-Krieg, gegen das "Regime Assad", den "Mörder"-Kreml oder das repressive China im Namen seiner Minderheiten und Bürgerrechtler.

Kritik an der Flüchtlingspolitik im Namen der Menschenrechte ist insofern zugelassen im pluralistischen Diskurs der Nation. Sie stört ja praktisch nicht sonderlich, verleiht mit ihrem Idealismus der Hilfe dem Ganzen einen wesentlich schöneren Schein und lässt die Deutschen mit dem Deuten auf 2015 auch noch als die allermenschlichsten Europäer dastehen (was ja ansonsten nicht ganz leicht ist!).

Schluss und Perspektive für die guten Christen, Flüchtlingsfreunde, Humanisten: Wer sich um die armen Menschen kümmert und nicht um die Gründe für ihre immer wieder eintretenden Notlagen, der hat in den nächsten Jahrzehnten noch viel zu tun...