Diese Kräfte wollen eine neue Verfassung in Chile verhindern

"Ciao, Verfassung von 1980" – Demonstrant in Chile (Quelle: frentefotografico)

Nach dem Votum für ein neues Grundgesetz in dem südamerikanischen Land formieren sich im In- und Ausland Gegner einer Demokratisierung

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Chile hat sich am Sonntag eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für eine Reform der Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet (1973-1990) ausgesprochen. Nach Auszählung von 94 Prozent der Stimmen lagen die Befürworter einer verfassungsgebenden Versammlung bei 78 Prozent. Insgesamt waren 14,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger des südamerikanischen Landes zur Teilnahme an der Volksbefragung aufgerufen.

Die Verfassungsreform ist die zentrale Forderung einer Protestbewegung, die im Herbst 2019 begonnen hatte und der die Sicherheitskräfte auf Weisung der Piñera-Führung brutal begegneten. Nach offiziellen Angaben verloren mehr als 30 Zivilisten ihr Leben, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt.

Die Verfassungsreform wurde nun nicht nur gegen den entschiedenen Widerstand der Regierung Piñera durchgesetzt. 79 Prozent der Teilnehmer sprachen sich auch für die Neuwahl einer verfassungsgebenden Versammlung aus - und lehnten damit zugleich den Versuch der Piñera-Führung ab, die Hälfte des Gremiums mit Mitgliedern des bestehenden Parlaments zu besetzen. Damit hätte sich die Regierung die Kontrolle über die Reform des Grundgesetzes gesichert, das der Regierung bislang massive Befugnisse zugesteht und kaum demokratische Teilnahme zulässt.

Die Protest- und Reformbewegung tritt dem entgegen für eine Stärkung des Sozialsystems sowie der Grundrechte auf Gesundheit, Arbeit und Dienstleistungen ein. Auch sollen der indigenen Bevölkerung mehr Rechte zugestanden werden.

Die verfassungsgebende Versammlung wird aus 155 Mitgliedern bestehen, die am 11. April 2021 - parallel zu den Regionalwahlen - bestimmt werden. In dem Verfassungskonvent darf kein Geschlecht mehr als 50 Prozent plus einem Sitz halten; das heißt, es dürfen in dem Gremium maximal 78 Männer oder Frauen vertreten sein.

Dafür ist eine "Ergebnisparität" angestrebt: Wenn in einem der 28 Wahlbezirke bei etwa vier zu vergebenden Mandaten drei Männer gewählt werden, muss der männliche Kandidat mit den wenigsten Stimmen seinen Sitz an die Frau aus derselben Partei mit den meisten Stimmen abgeben. Falls seine Partei keine weitere Kandidatin aufgestellt hat, geht der Sitz an die Frau aus dem jeweiligen Wahlbezirk mit den meisten Stimmen. Darüber hinaus sind Quoten für Vertreter indigener Bevölkerungsgruppen geplant.

Auf eine der wichtigsten Fragen nach dem Referendum ging die Verfassungsrechtlerin Claudia Heiss von Universidad de Chile ein. Bei dem nun gewählten Verfassungskonvent handele es sich "eindeutig um eine verfassungsgebende Versammlung", sagte sie. Dies bedeute, dass das Gremium im Zuge einer staatlichen Neugründung über den Gewalten der alten Republik steht. Binnen neun Monaten, bei einer möglichen maximalen Verlängerung um weitere drei Monate, soll der Vorschlag für eine neue Verfassung erneut zur Abstimmung gestellt werden.

Piñera sorgt am Wahlabend umgehend für Kritik

Präsident Piñera, der am Sonntagabend von einem "Sieg der Demokratie" sprach, hatte alles versucht, das Vorhaben zu vereiteln. Schon mit seiner Rede in Santiago de Chile am Sonntagabend sorgte er für erneute Kritik, als er sagte, dass "eine Verfassung nie von neuem aus der Taufe gehoben wird, weil sie einen Kompromiss der Generationen darstellen muss". Sie müsse "auch das Erbe der vorherigen Generationen enthalten", so der rechtskonservative Politiker, in dessen Kabinett sich mehrere Fürsprecher der Pinochet-Diktatur befinden.

Piñera trat damit direkt einem zentralen Aspekt des Referendums entgegen, der als "hoja en blanco" (weiße Seite) bezeichnet wurde: Dass die neue Verfassung komplett neu verfasst und die alte Verfassung nicht nur umgeschrieben wird.

Für Kritik sorgte Piñera, der in Umfragen zuletzt nur noch zwischen 16 Prozent und 24 Prozent Zustimmung lag, auch mit der Bemerkung, Chile habe in den vergangenen Monaten "wirklich schwierige Zeiten durchmachen müssen". Ein Grund dafür sei vor allem "die Welle der Gewalt und Zerstörung, die der chilenischen Gesellschaft so viel Schaden zugefügt hat", so Piñera mit Blick auf die Proteste, ohne aber auf die selbst von der UNO harsch kritisierte Polizeigewalt einzugehen.

Den politischen Tunnelblick hat Piñera mit dem Auswärtigen Amt in Berlin gemein, das heute von einem "guten Tag für die Demokratie in Lateinamerika" sprach. Die Bundesregierung aber hatte in den vergangenen Jahren den Export von Reizgas und Polizeiausrüstung nach Chile ermöglicht und auf dem Höhepunkt der Polizeigewalt gegen die Bewegung für eine Verfassungsreform im Dezember 2019 und Januar dieses Jahres Bundes- und Landespolizisten nach Santiago de Chile entsandt, um eine Polizeikooperation zu prüfen und die Ausbildung von V-Leuten zu unterstützen.