Türkei: Der Rechtsstaat ist abgeschafft

Erdogan will die Beziehungen zu Europa verbessern und verspricht Demokratie und Reformen. Tatsächlich verschärft er aber die Repressionen gegen Andersdenkende

Nicht einmal seine treuen AKP-Gefolgsleute werden verschont. Bindende Beschlüsse des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) werden ignoriert. Nun holt Erdogan mit einem"'NGO-Gesetz" zum Schlag gegen zivilgesellschaftliche Organisationen aus.

Keine Reform, sondern Repression

Bülent Arinc, einer der vier Gründerväter der AKP und Erdogan-Berater, nahm Erdogans Reformversprechen ernst und wollte sich konstruktiv beteiligen. Er forderte die Freilassung des seit Jahren unschuldig inhaftierten Kulturmäzens Osman Kavala wie auch des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas. "Reformen" wollte Erdogan aber so nicht verstanden wissen. Er bezichtigte Arinc' Initiative als "Anstiftung zu Unfrieden". Arinc legte am folgenden Tag seinen Posten als Berater des Präsidenten nieder.

Ihsan Arslan, der ebenfalls zum engeren Kreis Erdogans zählte, droht der Parteiausschluss, weil er sagte, "mit der Taktik der von ihr als Terrorbewegung eingestuften Gülen-Bewegung versuche die Regierung, mit Hilfe der Justiz Erfolg zu haben..., Arslan wurde mit der Forderung nach Parteiausschluss an den Disziplinarausschuss der AKP überstellt".

"Terrorismus" als Massenvernichtungswaffe

In der Nacht von Samstag auf Sonntag, den 27.12.2020, verabschiedete das Parlament in Ankara ein Gesetz zur Verhinderung der "Finanzierung und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen". In dem Gesetz wird "Terrorismus" als Massenvernichtungswaffe aufgeführt. Was in der Türkei unter "Terrorismus" subsumiert wird ist bekannt: Nahezu jede kritische Äußerung gegen die AKP-Regierung, journalistische Enthüllungen über Verbindungen zwischen dem türkischen Geheimdienst MIT und der Regierung, die Unterstützung oder Mitarbeit in linken Parteien oder Organisationen, die Teilnahme an Protesten und Demonstrationen der linken Opposition, ... die Liste ist lang.

Ein genauerer Blick auf das Gesetz zeigt, dass der Titel trügt: Mit einem Trick sollen unbeliebte NGOs und zivilgesellschaftliche Organisationen unter Kontrolle gebracht werden. Nach der Gleichschaltung der Medien, der Aushebelung einer unabhängigen Justiz und der Ersetzung oppositioneller Bürgermeister durch AKP-treue Zwangsverwalter ist damit eine weitere Hürde zu einer diktatorisch vorgehenden Regierung genommen.

Das Gesetz erteilt dem Innenministerium die Erlaubnis, die Arbeit von NGOs zu blockieren, wenn eines ihrer Mitglieder im Verdacht steht, "Terrorismus zu finanzieren oder zu unterstützen". Innerhalb von zwei Tagen soll ein Gericht die Entscheidung des Innenministeriums prüfen. Da die Gerichte aber unter der Regie Erdogans stehen und den sogenannten "Terrorismusurteilen" bisher keinerlei Beweise zugrunde lagen, ist die Tür zu weiterer Willkür gegen regimekritische Organisationen weit geöffnet.

Lokale Gouverneure können ebenso wie der Innenminister Online-Spendenaktionen blockieren, die nicht auf AKP-Linie sind. Das Gesetz gilt auch für internationale NGOs. Es sieht auch vor, dass die Regierung die Vorstände und Vorsitzenden durch sogenannte "Treuhänder" ersetzen kann. Diese Taktik wurde schon bei der Absetzung der demokratisch gewählten Bürgermeister der HDP angewandt. Inzwischen sind mehr als zwei Drittel der gewählten 65 HDP-Bürgermeister durch nicht gewählte, AKP-treue Zwangsverwalter ersetzt worden. Tausende landeten wegen "Terrorunterstützung" im Gefängnis. Eine Karte zeigt, dass hauptsächlich die kurdischen Gebiete betroffen sind.

Lange Haftstrafen für oppositionelle Politiker und Journalisten

Die 56-jährige kurdische HDP-Politikerin und ehemalige Parlamentsabgeordnete Leyla Güven wurde Mitte Dezember zu 22 Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Im Juni wurde ihr mit zwei weiteren Oppositionspolitikern ihr Abgeordnetenmandat entzogen. Die Festnahme erfolgte postwendend. Das Gericht in Diyarbakir warf ihr, wie allen inhaftierten HDP- Mitgliedern, "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation sowie der Verbreitung von Terrorpropaganda" vor.

HDP-Sprecher Ebru Günay kommentierte die Verurteilung als ein konkretes Beispiel für die Anwendung eines "Feindstrafrechts" gegen die Kurden. Als "Feindstrafrecht" wird ein Strafrecht bezeichnet, das bestimmte Gruppen als Feinde der Gesellschaft behandelt, schreibt der Spiegel. Güven beteiligte sich 2018 an einem Hungerstreik, um die Freilassung des seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu fordern.

Der im Berliner Exil lebende ehemalige Chefredakteur der ehemals regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, wurde in Abwesenheit zu 27 Jahren Haft verurteilt, weil er 2015 Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an den IS in Syrien aufgedeckt hat. Erdogan schalt ihn damals einen "Agenten", der Staatsgeheimnisse preisgebe, und warnte ihn, dass er damit nicht davonkommen werde, berichtete die FAZ.

Dündars Vermögen wurde vom Staat beschlagnahmt. Der CHP-Abgeordnete Enis Berberoglu, von dem Dündar die Unterlagen über den Waffentransport erhalten hatte, wurde zunächst zu 25 Jahren wegen Geheimnisverrats verurteilt, das Strafmaß wurde 2018 aber auf fünf Jahre Haft revidiert.

Das prominenteste Beispiel für die türkische Willkürjustiz ist der Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas, der seit 2016 im Gefängnis sitzt. 2007 wurde er erstmals ins türkische Parlament gewählt. 2014 trat er in die linksliberale Partei HDP ein und wurde ihr Ko-Vorsitzender. Bei den Wahlen 2015 erreichte die HDP aus dem Stand 13,1 Prozent und zog ins Parlament ein.

Obwohl der kurdische Anwalt sich gegen Gewalt von jeder Seite, also auch der PKK, wandte, wurde er mit Terrorismusvorwürfen überhäuft. Die Große Kammer des Europäischen Menschengerichtshofs (EGMR) ordnete kürzlich die Freilassung Demirtas' an. Nach vier Jahren Untersuchungshaft sei Demirtas in seinen Rechten schwer verletzt worden, urteilte das Gericht. Im Gegensatz zu dem vorangegangenen Urteil einer normalen Kammer des EGMR muss die türkische Regierung nun das Urteil umsetzen.

Mit Tricks versucht die türkische Regierung jedoch, die Umsetzung zu verhindern. Das Urteil läge nicht türkischer Sprache vor, von daher entschied der zuständige Haftrichter im Sinne Erdogans, Demirtas werde nicht freigelassen. Erdogan hatte zuvor das Urteil als "scheinheilig" bezeichnet, der EGMR würde sich an die Seite eines "Terroristen" stellen. Dies zeigt auf, wie missbräuchlich mit dem Terrorismusbegriff in der Türkei umgegangen wird, schließlich befindet sich Demirtas in Untersuchungshaft und ist nach wie vor nicht verurteilt.

Erdogan und Innenminister Süleyman Soylu interessiert das Recht auf Unschuldsvermutung nicht, "das türkische Volk habe Demirtas längst verurteilt und der EGMR solle das gefälligst akzeptieren. Niemals werde man einen Feind des Volkes freilassen", so Soylu. Die Unschuldsvermutung ist in einem Rechtsstaat ein wichtiger strafrechtlicher Grundsatz: Der Beschuldigte eines Strafverfahrens muss bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig gelten - und auch so behandelt werden.

Inzwischen liegt ein neuer Haftbefehl gegen Demirtas vor. Ihm wird vorgeworfen, 2014 zu Demonstrationen gegen die Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobane durch die Terrormiliz "Islamischer Staat" aufgerufen zu haben. Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und nationalistischen Türken sowie IS-Anhängern. Mehr als 30 Menschen kamen ums Leben, kurdische Läden und Vereine wurden geplündert und in Brand gesteckt.

Die HDP distanzierte sich von den gewalttätigen Auseinandersetzungen. Trotzdem macht Erdogan Demirtas für die Ausschreitungen und Toten verantwortlich. Der juristische Trick einer neuen Anklage wird voraussichtlich keinen Erfolg haben, denn der EGMR hat unmissverständlich festgehalten, "eine Fortsetzung der Untersuchungshaft in demselben Kontext würde eine Verlängerung der Verletzung von Demirtas’ Rechten darstellen".

Allerdings haben die Richter des EGMR keine Handhabe, die Türkei zur Umsetzung der Beschlüsse zu zwingen. Hier ist die Politik gefragt. Möglich wäre ein Rauswurf der Türkei aus dem Europarat wegen der Nichteinhaltung bindender Urteile durch dem EGMR. Die Bundesregierung verhindert aber weiterhin, dass auf europäischer Ebene wirksamer Druck auf die Türkei ausgeübt wird.

Demirtas ist nicht der einzige Fall, bei dem die Türkei sich weigert, Beschlüsse des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs umzusetzen. Der EGMR ordnete im Dezember 2019 auch bei dem inhaftierten Kulturmäzen Osman Kavala die Freilassung an, was von der türkischen Regierung bis heute ignoriert wird. Und dies, obwohl das Ministerkomitee des Europarates die Türkei aufforderte, bis zum 11. November 2020 einen Plan zur Einhaltung der EGMR -Beschlüsse vorzulegen.

Kavala wurde am 18. Oktober 2017 in Istanbul verhaftet. Ihm wurden die Organisation und Finanzierung der Gezi-Proteste 2013 vorgeworfen. Dem konnte der EGMR mangels Beweise nicht folgen. Stattdessen stellte das Gericht fest, dass Kavala zum Schweigen gebracht und seine Inhaftierung andere Menschenrechtsaktivisten abschrecken solle. Die Aufforderung des EGMR, Kavala umgehend freizulassen, wurde wie bei Demirtas ignoriert.

Stattdessen wurde die nächste Anklage aus der Schublade geholt: Nun wird er beschuldigt, ein Drahtzieher des gescheiterten Putschversuchs vom 15. Juli 2016 gewesen zu sein. Er soll darüber hinaus versucht haben, "Informationen für den Zweck politischer oder militärischer Spionage zu sichern, die aus Gründen der Sicherheit und der Interessen des Staates geheim gehalten werden sollten". Terrorunterstützung, ob nun die Gülen-Bewegung, die PKK oder gleich beides, sowie Spionage sind die gebräuchlichsten Anschuldigungen gegen Oppositionelle in der Türkei.

Womit wir wieder bei dem eingangs beschriebenen Gesetz wären. Osman Kavala unterstützte viele zivilgesellschaftliche Organisationen und arbeitete auch mit internationalen NGOs und Kultureinrichtungen wie z.B. dem Goethe Institut zusammen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch (HRW), die regelmäßig über die Menschenrechtsverletzungen der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung im Inland und im Ausland wie z.B. in Nordsyrien und Nordirak berichten, fürchten nun, mundtot gemacht zu werden.

Mehrere zivilrechtliche Organisationen veröffentlichten vor der Parlamentssitzung eine Erklärung:

Angesichts der Tatsache, dass gegen Tausende Akteure der Zivilgesellschaft - Journalisten, Politiker, Mitglieder von Berufsorganisationen - im Rahmen des (Anti-Terrorismus-Gesetzes) ermittelt wird, gibt es keinen Zweifel, dass dieses Gesetz auf fast alle regierungskritischen Vereinigungen zielt.

Zivilrechtliche Organisationen, Deutsche Welle

Während mit solchen Tricks versucht wird, die gesamte demokratische Opposition zu zerschlagen und lebenslänglich, wie im Fall der Politikerin Leyla Güven, in Gefängnissen schmoren zu lassen, wurde der größte Mafia-Boss und führende Pate der türkischen Unterwelt, Alaatin Cakici, im April frühzeitig aus der Haft entlassen.

Cakici saß wegen der Gründung einer kriminellen Vereinigung im Gefängnis und weil er seine Frau durch einen Auftragskiller ermorden ließ. Kaum auf freiem Fuß, bedrohte er öffentlich den Vorsitzenden der kemalistischen Partei CHP, Kemal Kilicdaroglu. "Die Justiz, die sich darauf beschränkte, Cakicis Drohungen zuzuschauen, brachte einen Bürger hinter Gitter, weil er den Mafiaboss in den sozialen Medien kritisiert hatte!", schreibt die FAZ.