Die Schützengräben werden umgegraben

Die neuen Spaltungen der Gesellschaft (Teil 1)

Corona ist neben seiner Existenz als Virus auch ein Pilz - ein Spaltpilz. Er spaltet die Gesellschaft in die Befürworter und die Skeptiker beziehungsweise Gegner der von der Politik angeordneten Einschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens.

Corona ist damit Teil einer Reihe von neuen Spaltungen innerhalb der Bevölkerung, die ideologischen Schützengräben werden neu gegraben. Nun waren die Bürger auch in der Vergangenheit bei wichtigen politischen Entscheidungen uneins, man denke etwa an die Ostpolitik von Willy Brandt, die Abtreibungsdebatte oder den Kampf gegen die Atomkraft.

Neu an den aktuellen Spaltungen ist, dass die daran beteiligten Akteure im Vergleich zur Vergangenheit unterschiedliche Positionen einnehmen und neu ist die Radikalität der Diskurse beziehungsweise deren Unterbindung. Im Folgenden ein Parcours durch das neue gesellschaftliche Minenfeld.

Die Tschernobyl-Debatte

Das aktuelle Corona-Phänomen und die Debatte um die Schädlichkeit des atomaren Regens nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 weisen eine Gemeinsamkeit auf: Beides waren "Natur"-Ereignisse in dem Sinne, dass sie unsere Gesundheit bedrohten; einmal durch die Kontaminierung der Umwelt und zum anderen durch die Gefährdung aufgrund einer Vireninfektion.

Damit sind die Gemeinsamkeiten auch schon erschöpft, denn konträrer könnte man sich das Handeln der Akteure im politischen Feld kaum vorstellen. 1986 beharrte die (zum Beispiel bayerische) Regierung darauf, dass von der Verseuchung durch den radioaktiven Niederschlag keine Gefahr für die Bevölkerung ausgehe.

Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, versicherte drei Tage nach der Katastrophe im Fernsehen, eine Gefährdung sei "absolut auszuschließen". Diese bestehe nur in einem Umkreis von 30 bis 50 Kilometern um den Reaktor herum. 1987 kostete der bayerische Umweltminister Alfred Dick gar eine verstrahlte Molke, um deren Unbedenklichkeit zu beweisen. Derartiges Agieren war eingebettet in den forcierten Ausbau der Atomkraft durch die Bundesregierung.

Demgegenüber stand die tiefe Skepsis und die Kritik der Atomkraftgegner und der Umweltgruppen, die vor den Folgen des radioaktiven Regens warnten und dafür auf die Straße gingen. Den Aussagen der Regierenden wurde zutiefst misstraut. So hieß es damals in einem Flugblatt:

"Die offiziellen Verlautbarungen ließen uns zwar das Auf und Ab der Strahlenwerte mitverfolgen, gaben aber weder klare Aussagen über den realen Zustand unserer aktuellen Gefährdung noch über zu erwartende Langzeitschäden."

Bei diesem Ereignis beschwichtigte also die offizielle Seite, während die Warnung vor den Folgen aus der Zivilgesellschaft kam und auf der Straße vertreten wurde.

34 Jahre später: Politische Konstellation auf den Kopf gestellt

34 Jahre später haben sich die Fronten völlig gewandelt, die politische Konstellation aus der Tschernobyl-Katastrophe ist sozusagen auf den Kopf gestellt. Bei Corona ist es der Staat respektive die Regierenden, die mit einem bisher beispiellosen Durchsetzungswillen vor einer Gesundheitskatastrophe warnen und ebenso beispiellose Maßnahmen verhängen.

Diese werden von der ehemaligen politischen Opposition aus den 1980er Jahren - den Grünen und den Linken (bis auf die verweigerte Zustimmung zum Infektionsschutzgesetz im November 2020) - weitgehend mitgetragen. Die Kritik an den Maßnahmen kommt nun von der FDP und einer eher bürgerlichen Mitte (und von Rechtsaußen, mit dabei die AfD).

Und neu an dieser Konstellation ist auch die massive Marginalisierung und Stigmatisierung von Kritikern der Corona-Politik, also der Maßnahmen. Es ist eine Radikalisierung des öffentlichen Diskurses zu beobachten, den manche mit der McCarthy-Zeit vergleichen. Es scheint, als ob die Radikalität der Maßnahmen ihren Wiederschein in der Radikalität der öffentlichen Meinung findet.

Die Blockwart-Mentalität taucht wieder wie Phönix aus der Asche auf und in Zeitungsartikeln wird gefragt, ob man Corona-dissidente Ärzte nicht den Ärztekammern melden müsse, ein Berufsverbot im Hintergrund aufscheinen lassend.

Die Radikalität des Diskurses äußert sich auch in der Tendenz, quasi zu einer Glaubensfrage zu werden. Zwischen Orthodoxie und Heterodoxie verläuft ein Graben, der auch wissenschaftlich nicht mehr überbrückbar scheint. Wer entscheidet denn nun, wer "Recht hat": Der Virologe Streek oder der Virologe Droste? Ist es einfach die Anzahl der sich dem jeweiligen Lager zurechnenden "Experten"? Wobei es mit den "Experten" schon schwierig wird, darf sich ein schnöder Orthopäde - gleichwohl Arzt - zu Corona äußern?

Die tägliche Veröffentlichung von irgendwelchen Zahlenreihen suggeriert eine objektive Wirklichkeit, die so gar nicht gegeben ist und verschleiert, dass es sich hier um eine Wirklichkeit handelt, die auf politischen Entscheidungen beruht.

Corona beziehungsweise die Maßnahmen der Politik zu seiner Bekämpfungen wirbeln die bundesdeutsche Gesellschaft durcheinander wie nie zuvor. Wie bei einem Stresstest werden plötzlich Bruchstellen deutlich, die sich zwar andeuteten, aber nun mit ungeahnter Wucht hervortreten.