Die rechten Methoden einiger Linker

Wolfgang Thierse hat Recht: Die Welle der Repressionslust steigt zu hoch

Dass mitten in einer Seuche, an der bereits Zehntausende gestorben sind und die jetzt hunderttausende Arbeitsplätze sowie Existenzen ruiniert noch um andere Themen gestritten wird, ist schon okay. Auch im Krieg darf man sich anderen Themen widmen.

Aber in einem Moment, in dem Krebserkrankungen nicht diagnostiziert werden und die Zahl der Suizidversuche steigt, in dem das Rennen der Medizin gegen die Seuche nur mit Mannschaftsgeist gewonnen werden kann, irritiert die Härte, mit der um die heiligen Kühe Nation, Hautfarbe und Geschlecht gerungen wird.

Selbst Belange der Pandemie werden ihr untergeordnet. Als ich jüngst unter anderem im WDR darauf hinwies, dass die Ständige Impfkommission um den Virologen Thomas Mertens in ihren Empfehlungen nur einen Faktor unberücksichtigt ließ, nämlich das Geschlecht, hob sofort ein Sturm der Entrüstung an, der sich auf genau das stützte, was den Rechten immer vorgeworfen wird: Victim blaming, historische Kollektivschuld, Whataboutism und abstruse Relativierungen.

Häufiger Tod wurde mit langen Krankheitsverläufen aufgerechnet oder mit anderen, seltenen Risikofaktoren, die man natürlich auch berücksichtigen soll, die aber wegen kleiner Fallzahlen nicht den Erfolg der Impfkampagne beeinträchtigen. Zahlen wurden weglassen oder ohne jeden Beleg einfach bestritten. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Aggressivität vor allem Frauen auf eine von Frauen erstellte Metastudie zum Gender-Covid-Gap reagiert haben.

Welchen Schaden diese linke oder besser pseudolinke Cancel Culture anrichtet, sollte klar sein: Im selben Moment nämlich liegen Patienten, die längst hätten geimpft sein können, an Beatmungsschläuchen, kämpfen um ihr Leben und besetzen wochenlang Plätze, die andere auch benötigen. Zumeist sind das eben Männer, die ein beinahe dreifaches Risiko als Frauen haben, im Fall einer Covid-19-Erkrankung intensivpflichtig zu werden.

Wir könnten effektiver impfen, wenn das berücksichtigt würde. Doch auf das Thema angesprochen sagte Mertens, eine geschlechtergerechte Priorisierung sei kaum möglich. Das ist nichts als ein Kotau vor der zu erwartenden Empörung, denn beim Alter geht es ja selbstverständlich. Und zwei Faktoren zugleich zu berücksichtigen, das lernt man in der Grundschule.

Wie Wolfgang Thierse die SPD gegen sich aufbrachte

Auf dieser Art von Verweigerung von Sachlichkeit beruht das Versagen einer politischen Kultur vor der Jahrhundertaufgabe Sars-CoV-2, so simpel und doch anstrengend sie ist.

Ebenso erwartbar hoch ist Welle der Empörung, die den ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse (SPD) anbrandet, weil er zu bemerken wagte, dass nicht nur Rechte eine untaugliche Identitätspolitik betreiben, sondern auch Linke mit Ausgrenzung arbeiten. Die Erwischten toben ja noch immer am tollsten.

Eine linke Cancel Culture gebe es nicht, so das laute Mantra all jener, die dazu gehören wollen, zu jener Linken, die sich die Gerechtigkeit für Geschlechter, Ethnien und Hautfarben zur Aufgabe gemacht hat.

Aber Thierse hat schlicht recht mit der Klage, dass nicht mehr Inhalte, sondern Zugehörigkeiten zuerst und oft allein zählen, dass der Diskurs über Geschichte, Bedeutung und Zukunft dabei unter die Räder kommt.

Es handelt sich gar um ein Lehrstück nach Elias Canetti, denn es hat sich längst eine Doppelmasse gebildet: Die Doppelmasse ist der Ausweg aus dem Dilemma der Masse, stets wachsen zu müssen, um bestehen zu bleiben in ihrer Funktion, die Grenzen des einsamen Einzelnen aufzuheben. Der einzige Ausweg aus der Ohnmacht des begrenzten Wachstums der Masse ist, so Canetti, die Bildung von Doppelmassen, wobei eine Masse sich dann an einer anderen misst. Je näher sich beide sind, an Kraft und Intensität, um so länger bleiben die beiden, die sich messen, am Leben.

Keine Kleinigkeit also, sondern ein binäres Repressionsregime. Wer nicht zu einer der beiden Massen gehört, braucht eine immense Standfestigkeit.

Keine Kleinigkeit auch, wenn ein Wolfgang Thierse wie dieser Tage im Deutschlandfunk hörbar erregt ans Mikrofon tritt, um sich gegen den Wind in den seit je vollkommen überschätzten Plattformen der unreflektierten und uninformierten Reaktionen zu stellen.

Deren Funktion besteht ja gerade und allein in der Bildung von Massen, daher die Bezeichnung der sozialen Netzwerke. Intellektuelle, intelligente und informierte Netzwerke findet man anderswo, und es war wichtig zu sagen, dass kulturelle Anverwandlung zu unserer Kultur gehört wie die Luft zum Atmen. Dass sie noch keine Unterdrückung ist. Dass jeder Schauspieler selbstverständlich einen anderen und eine andere spielen kann, darin besteht ja geradewegs der Beruf. Hautfarbe ist nicht die erste und einzige Qualifikation für eine literarische Übersetzung.

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