Türkei: Verbot der demokratischen Oppositionspartei HDP eingeleitet

Würde die Bundesregierung ihren Tunnelblick ablegen, würde sie erkennen, wie weit ihre Wahrnehmung und Haltung gegenüber der Türkei an der Realität vorbeigeht

Der türkische Generalstaatsanwalt des Obersten Gerichtshofs, Bekir Sahin, hat das Verbot der zweitgrößten Oppositionspartei eingeleitet. Das Verbotsverfahren, mit dem das türkische Verfassungsgericht beauftragt ist, wurde von langer Hand vorbereitet. Telepolis berichtete Anfang März darüber: Türkei: Oppositionspartei HDP kurz vor dem Verbot?.

Begründet wird die Anklage mit dem üblichen Vorwurf der "Beteiligung an terroristischen Aktivitäten". HDP-Mitglieder würden die Integrität des Staates untergraben und seien an terroristischen Aktivitäten beteiligt. Die Partei habe bei keinem nationalen Problem Partei für die Türkei ergriffen, sondern sich immer auf der Gegenseite befunden, heißt es weiter in Anklageschrift.

Mangelnde Loyalität gegenüber dem türkischen Staat bedeutet konkret, dass sich die HDP im Parlament gegen die völkerrechtswidrigen Militäroperationen der türkischen Streitkräfte in Nordsyrien ausgesprochen hat und dass sie sich Folter und Vertreibung entgegengestellt.

Mangelnde Loyalität gegenüber dem türkischen Staat bedeutet auch, dass sie sich für mehr Frauenrechte und gegen rückwärtsgewandte Gesetze stellt, die praktisch Kinderehen legitimieren und Vergewaltigungen nicht strafrechtlich verfolgen, wenn der Vergewaltiger sein Opfer heiratet. Mangelnde Loyalität ist es auch, wenn sich die HDP für die Rechte von Homosexuellen einsetzt.

AKP im Griff der rechtsextremen MHP

Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft entspricht dem Willen von Erdogan. Der Präsident sieht seine Macht schwinden. Er wird deshalb immer abhängiger von seinem Koalitionspartner, der rechtsextremen MHP. Am letzten Donnerstag nahm Erdogan an einem Kongress der MHP teil, ein deutliches Zeichen des Schulterschlusses mit den Faschisten.

Nach neuesten Umfragen würde die MHP mit sieben Prozent nicht mal mehr die in der Türkei gültige 10-Prozent-Hürde schaffen - im Gegensatz zur HDP. Laut den Umfragen kann Erdogans AKP ohne die MHP allerdings auch keine eigene Mehrheit mehr erreichen. Die Einleitung des Verbotsverfahrens gegen die HDP, die nach den gleichen Umfragen trotz aller Schikanen gegen sie noch immer weit über zehn Prozent Stimmen bekommen würde, ist daher ein Geschenk an die MHP, um den Fortbestand der AKP/MHP-Koalition zu sichern.

Der wenige Stunden vorher beschlossene Mandats-Entzug und Verlust der Immunität des HDP-Politikers Ömer Faruk Gergerlioglu zeigt, dass das Verbot eine lang vorbereitete Inszenierung von AKP und MHP ist. Einen Tag, nachdem ihm sein Abgeordnetenmandat am vergangenen Mittwoch aberkannt wurde, hat die türkische Verwaltung seinen Namen und seine Kontaktdaten bereits aus dem Parlamentsregister gelöscht.

Der 55-jährige Arzt setzt sich für Menschenrechte ein und machte in der Vergangenheit immer wieder die Verstöße der türkischen Regierung dagegen publik. Innerhalb der HDP repräsentiert er nicht die Kurden, sondern eher das religiös-konservative Milieu in der Partei. Wahrscheinlich ist er gerade deshalb der AKP ein Dorn im Auge, bindet er doch ein konservatives Klientel an die HDP.

Parteiverbot und Politikverbot

Den Antrag auf Aufhebung der Immunität verlas der MHP-Abgeordnete Celal Adan. Adan war einer der Angeklagten im Mordfall des ehemaligen DISK-Gewerkschaftsvorsitzenden Kemal Türkler, der 1980 von türkischen Faschisten ermordet wurde. Wegen der Aufhebung der Immunität als Abgeordneter wird Gergerlioglu nun unter Umständen eine zweieinhalbjährige Haftstrafe wegen eines Tweets aus dem Jahr 2016 antreten müssen. Darin hatte er zur friedlichen Lösung des Kurdenkonflikts aufgerufen.

Gergerlioglu hat zwar Beschwerde beim Verfassungsgericht eingelegt und darauf bestanden, dass vor der Aufhebung der Immunität über seine Beschwerde entschieden werden müsse, aber wegen der Gleichschaltung der Justiz in der Türkei, sind seine Erfolgschancen nur gering.

Übrigens hat die türkische Generalstaatsanwaltschaft nicht nur das Verbot der HDP beantragt, sondern auch das Politikverbot für 687 Funktionäre und Mandatsträger für fünf Jahre sowie die Beschlagnahme des gesamten Parteivermögens.

Damit soll verhindert werden, dass eine Nachfolgepartei gegründet wird. Obwohl Verbote linker demokratischer Parteien in der Türkei Tradition haben, ist das HDP-Verbot auch in der AKP umstritten. Zudem sprachen sich alle Oppositionsparteien gegen das Verbot aus. "Eine politische Partei, die sechs Millionen Stimmen geholt hat, zu verbieten, bedeutet, den Willen der Wähler zu verachten", kritisiert der Vorsitzende der muslimisch-konservativen Deva-Partei, Ali Babacan, der einst unter Erdogan Wirtschaftsminister war.

"Diese Regierung hat der Demokratie bereits in jeder erdenklichen Weise geschadet", sagt der sozialdemokratische Abgeordnete Sezgin Tanrikulu. "Doch dieses Verfahren markiert einen neuen Tiefpunkt", schreibt der Spiegel.

Die konservativen Oppositionsparteien fürchten, dass dies außenpolitische Konsequenzen haben könnte. Aber Erdogan scheint sich seiner Sache sicher zu sein, was heißt, er befürchtet keine außenpolitischen Konsequenzen. Die diplomatische Floskel "man sei besorgt" nimmt er schon lange nicht mehr ernst, da es nie ernsthafte Konsequenzen zu fürchten gab. Deswegen werden auch die verschiedenen Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs EMGR zur Freilassung des ehemaligen Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas, ignoriert, obwohl sie für die Türkei bindend sind.

Sinem Adar, Türkei-Expertin vom Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) fasst die Situation im zitierten Spiegel-Artikel folgendermaßen zusammen:

"Erdogan hat die absolute Macht über die Institutionen des Staates, aber er hat nicht die absolute politische Macht...der Präsident ist auf das Wohlwollen der MHP angewiesen."

HDP-Verbot wird die demokratisch Gesinnten in der Bevölkerung nicht stoppen

Der Einzug der HDP ins türkische Parlament 2015 ist auf die demokratisch orientierten Teile der Bevölkerung in der Türkei zurückzuführen, die sich für Menschenrechte, Frauenrechte, Frieden, Pressefreiheit, Umweltpolitik und Minderheitenrechte engagieren. Diese globalen Themen, passen natürlich nicht zur rückwärtsgewandten Politik der Erdogan-Regierung. Was passiert nun mit den 6,5 Millionen Stimmen der bisherigen HDP-Wähler?

Das Verbot zahlreicher linker Parteien in der Vergangenheit wie auch jetzt vermutlich der HDP ändert nichts am Bedürfnis der demokratisch gesinnten Teile der Bevölkerung in der Türkei an einer friedlichen Lösung der sogenannten Kurdenfrage - und es ändert nichts am Niedergang der radikal islamistischen, turbokapitalistischen Erdogan-Politik, die nicht nur durch die Koalition mit der MHP faschistische Züge hat...

Murat Yetkin, ein bekannter türkischer Kolumnist, ist der Meinung, dass die islamistische Milli Görüs Bewegung, die der heutigen Saadet Partei zuzuordnen ist, eine islamische politische Bewegung ist, die einst selbst unter Parteiverboten - damals unter dem Vorwurf des "Antisäkularismus" - gelitten hat. Er kennzeichnet die AKP als Abspaltung dieser Bewegung.

2008 wurde die AKP, als sie bereits an der Macht war, nämlich von den im Hintergrund agierenden Militärs einem Verbotsverfahren mit der Behauptung unterzogen, dass sie "im Mittelpunkt antisäkularer Aktionen" stehe.

Yetkin charakterisiert die HDP ebenfalls als eine politische Bewegung, deren Vorläufer aufgrund von "Separatismus"-Vorwürfen wiederholt verboten wurden. Er wirft der AKP vor, heute das Gleiche zu tun, wogegen sie sich damals selbst wehrte.

Parteiverbote haben in der Türkei eine lange Tradition. Seit 1961 wurden mindestens 20 Parteien verboten, darunter in den Neunzigerjahren auch die Refah-Partei, die Vorgängerin der AKP. Früher kritisierte Erdogan Parteiverbote selbst wiederholt als undemokratisch. Und der AKP-Vizechef Numan Kurtulmus hat sich noch im vergangenen Jahr gegen ein Verbot der HDP ausgesprochen, da aus den Parteiverboten nie etwas Positives hervorgegangen sei. Nun ja, das war vor einem Jahr!

Die Einleitung der Prozedur zum HDP-Verbot zeigt erneut, dass die von Erdogan angekündigten "Reformen" nur dazu dienen, Europa milde zu stimmen und so weiter die europäischen Geldtöpfe abzuschöpfen. Das Reformgerede ist inhaltsleer und reines Gerede.

Fatal ist, dass Erdogan alle Möglichkeiten zerstört, die sogenannte Kurdenfrage, also die Anerkennung als größte ethnische Minderheit in der Türkei mit Recht auf ihre Muttersprache und Kultur, friedlich im Dialog zu lösen.

Was bleibt den Kurden überhaupt noch als Möglichkeit, den Konflikt jenseits von Assimilation zu lösen?