Die Corona-Krise und die Privatisierung des Gesundheitssystems

Interview mit Werner Rügemer über die Logik des Systems: "Um die Gesundheit der Bevölkerung geht es dabei am Wenigsten"

Mitunter gewinnt man den Eindruck, als seien das Gesundheitswesen und die Ämter so weit heruntergespart, dass zur Bewältigung der Corona-Krise keine nennenswerten Kapazitäten mehr vorhanden wären. Ist dem tatsächlich so? Telepolis hat dazu Fragen an den Privatisierungsexperten Werner Rügemer gestellt, der dem Phänomen schon seit Jahren auf den Grund geht (vgl. Der Staat entmachtet sich selbst) und zum Thema mehrere grundlegende Bücher publiziert hat.

"Kein unglückliches Agieren, sondern systemisch bedingtes Management"

Herr Rügemer, was hat das unglückliche Agieren der Bundesregierung bei der Corona-Krise mit der Privatisierungspolitik zu tun?

Werner Rügemer: Ich sehe das Agieren der Bundesregierung nicht als "unglücklich", sondern als systemisch bedingtes Management. Es beruht auf Vorentscheidungen, nämlich verschiedener Privatisierungen, die zudem im größeren Kontext stehen: Die Interessen großer Kapitalorganisatoren gehen vor, private Berater entscheiden immer mehr mit.

Aus dieser Logik kommen die Bundes- und Landesregierungen und das parlamentarische System selbst nicht mehr heraus. Um die Gesundheit der Bevölkerung - Gesundheit nach der WHO verstanden als "umfassendes körperliches, seelisches und geistiges Wohlbefinden" - geht es dabei zum Wenigsten.

"Deutschland galt als gut vorbereitet"

Ich habe den Eindruck, die Politik wurde von Corona vollständig überrannt. Aber hätte sie sich nicht bereits vor Jahren auf eine solche Art von Pandemie einstellen müssen?

Werner Rügemer: Die WHO rief 2013 wegen eines zu erwartenden neuen Sars-Coronavirus zu nationalen Vorbereitungen auf die nächsten Pandemien auf. Deshalb beschloss der Bundestag 2013 mit der Pandemie-Risikoanalyse konkrete Vorsorgemaßnahmen: Masken, Schutzanzüge, Desinfektionsmittel und dergleichen. (Bundestagsdrucksache 17/12051 vom 3.1.2013). Weil aber die Lagerhaltung von medizinischen Materialien, angefangen bei Masken und Schutzkleidung für das Gesundheitspersonal, sich in einem privatisierten, gewinnorientierten System nicht rechnet, wurde die beschlossene Vorbereitung nicht durchgeführt.

Die Bundesregierung aber konnte sich, wie Regierungen der USA und in der EU auch, bis zuletzt Anfang 2020 trotzdem bestätigt fühlen. Denn die im Westen führende Institution für Epidemien- und Pandemien-Forschung, die private Johns Hopkins University (JHU), hatte in ihrem Global Health Security Index (GHSI) von 2019 festgestellt: Unter 195 Staaten der Erde steht das (am weitesten privatisierte) Gesundheitssystem der USA an allererster Stelle als für Pandemien "am besten vorbereitet"; die wichtigen EU-Staaten wie Deutschland galten weit vorne als "gut vorbereitet" (China übrigens an 54.! Stelle).

Die JHU hatte übrigens während der ersten Monate der Pandemie auch z.B. für Deutschland aktuellere und vollständigere Zahlen für das Infektionsgeschehen als die deutsche zuständige Behörde Robert Koch-Institut (RKI). Die von Multimilliardärs-Stiftungen (Bloomberg, Niarchos, Gates) finanzierte Elite-Universität JHU hat ein Mehrfaches an Personal als RKI und die EU-Behörde EMA zusammen.

"Private Investoren kaufen öffentliche Krankenhäuser und fassen sie zu Konzernen mit Dutzenden von Einrichtungen zusammen"

Seit wann wird diese Privatisierungs-Politik betrieben? Welche Interessen werden dabei von wem verfolgt?

Werner Rügemer: Nach dem Zusammenbruch der DDR beschloss die Kohl-Regierung, von McKinsey beraten, 1993 das Gesundheitsstruktur-Gesetz. Damit wurde das bisherige Kostendeckungsprinzip abgelöst durch die "leistungsgerechte Vergütung". Die Kosten im Krankenhaus werden seitdem nicht mehr nach Behandlungstagen und tagesgleichen Pflegesätzen berechnet, sondern nach dem technischen, finanziellen und personellen Aufwand für jeden einzelnen Fall.

Die Methode heißt Diagnosis Related Groups (DRG): Die Fallpauschale. Entwickelt an der privaten Elite-Universität Yale, war sie 1983 unter US-Präsident Ronald Reagan in den USA eingeführt worden. Reagan war übrigens der Ex-Pressesprecher von General Electric, des größten Herstellers von Medizingeräten.

Das Konzept der Fallpauschale orientiert das Gesundheitssystem an der "Produktivität" im Sinne der Investoren. Möglichst teure Behandlungen werden mit höchstmöglichem Maschinen- und mit möglichst knappem Personaleinsatz möglichst schnell durchgeführt: Je schneller das Bett für den nächsten Fall geräumt wird, desto "produktiver".

Auch die EU-Staaten übernahmen das US-Vorbild. Mit dem Krankenversicherungs-Modernisierungs-Gesetz von 2004 fügte die SPD/Grüne Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder weitere Formen der Privatisierung hinzu, etwa bei der Zuzahlung der Patienten für Medikamente und Vorsorgeuntersuchungen und bei Zusatzversicherungen. Die Krankenkassen schafften das "Sterbegeld" ab: Begräbnisse müssen nun die Angehörigen der Gestorbenen selbst zahlen.

Private Investoren kaufen seitdem öffentliche Krankenhäuser und fassen sie zu Konzernen mit Dutzenden von Einrichtungen zusammen. Die bekanntesten sind Asklepios, Rhön-Kliniken, Fresenius mit FMC und Helios. Den Anfang in Deutschland machte übrigens die Charité in Berlin. Sie war das traditionsreiche und dann auch größte Krankenhaus der DDR. Deshalb wurde es das erste Objekt einer massiven Durch-Privatisierung.

In der privaten Tochterfirma Charité Facility Management CFM sind zahlreiche weitere private Tochterfirmen zusammengefasst, die Catering, Reinigung, Wäsche, Logistik, Post, Labordienste, Dokumentation, Transporte usw. besorgen. Leih- und Werkvertragsarbeit sorgt für prekäre und ungesunde, auch hygienisch gefährliche Arbeitsverhältnisse. Die Charité arbeitet eng mit der JHU zusammen und stellt als Regierungskrankenhaus die virologische Beratung für die Bundesregierung auch bei der Pandemie.

Unbemerkt von der Öffentlichkeit hat z.B. der Private Equity-Investor Waterland in Deutschland 120 Reha-Kliniken zusammengekauft und daraus die private Reha-Kette Median gebildet. Die Geschäftsführer kommen von McKinsey und holen sich Billigärzte und Niedriglohnpfleger aus verarmten Staaten Osteuropas. Andere private Investoren aus der Schweiz, aus Frankreich, den Niederlanden wie Ardian, Orpea, Korian, Atos, Diaverum, Omnicare, Sanoptis, Synlab, Colosseum Dental Group, Alloheim, Linimed und Ameos kauften europaweit Spezialkliniken, Pflegeheime, Pflegedienste, Arztpraxen und Laborketten zusammen.

Die Privatisierung hat viele Gesichter: So erhöhte die Bundesregierung 2015 ihren Beitrag zur privaten Global Alliance for Vaccines and Immunization (GAVI) auf jährlich 600 Millionen Euro. GAVI wurde 1999 von der Bill&Melinda Gates Foundation zusammen mit Stiftungen der großen Pharmakonzerne gegründet. Die Merkel-Regierungen sind auch mit in der privaten Coalition for Epidemic Preparedness Innovation (CEPI).

Nicht zuletzt: Alle großen Digitalkonzerne wie Microsoft, Amazon, Apple, Google und Facebook - sie gehören alle mehrheitlich den heute größten Investoren wie BlackRock, Vangard, State Street, Norges & Co - entwickeln, ausgehend von den USA, private digitalisierte Gesundheitsdienste. So betreibt die Amazon-Tochterfirma Amazon Care eigene Kliniken und die Vermittlung von Terminen in Arztpraxen.

Diese Konzerne kaufen reihenweise start ups, die wichtige Projekte entwickeln: Telemedizin, Gesundheitsüberwachung, anti-aging-Programme, smarte Windeln und intelligente Schuhe, Ansteckungs-Tracking, Fitness- und Ernährungsassistenten, Blutspende- und Organspende-Plattformen sowie Algorithmen für die Erfassung und Auswertung von Krankheitsdaten. Die Konzerne nutzen die Corona-Pandemie, damit Regierungen solche Dienste beschleunigt übernehmen.

"Für das Management der Pandemie hat die Bundesregierung so viele private Berater engagiert wie noch nie"

Sind von dieser Privatisierungspolitik, abgesehen vom Gesundheitswesen, auch die verschiedenen Ämter und Verwaltungsbereiche betroffen, was jetzt negative Konsequenzen zeitigt?

Werner Rügemer: Mit Beginn der Pandemie wurde das öffentliche Vergaberecht mit öffentlichen Ausschreibungen gestoppt. Für das Management der Pandemie hat die Bundesregierung so viele private Berater engagiert wie noch nie: Angefangen beim Einkauf von Masken über Video-Programme für Hochschulen, Gesundheitsämter und das Gesundheitsministerium selbst.

Zudem saßen die Privatisierer schon im Parlament: Abgeordnete der Regierungsparteien CDU und CSU - im Bundestag, in Landtagen, im EU-Parlament - sind gleichzeitig Unternehmer und private Berater, vertreten also nicht nur ihre Wähler, sondern sowohl sich selbst als Unternehmer wie auch andere Unternehmen, sind als hochbezahlte private Vermittler aktiv.

Gesundheitsminister Jens Spahn ist selbst ein Privatisierungs- und Digitalisierungs-Fundamentalist. Wegen seiner Verbindung zum privaten und digitalen Medikamenten-Versand DocMorris (Niederlande/Schweiz) bezeichnete ihn das Ärzteblatt als "DocMorris-Aktivist". Er richtete im Ministerium eine Abteilung für Digitalisierung ein (Anm. d. Red.: Zuvor an dieser Stelle geäußerte Angaben im Zusammenhang mit BWI werden vom Unternehmen als nicht zutreffend bezeichnet und wurden entfernt.)

Mit dem Terminservice- und Versorgungs-Gesetz treibt er mit Aufträgen an die KI-Industrie die Digitalisierung der Arzttermine, das elektronische Rezept und die digitale Gesundheitsberatung voran. Im Corona-Management führte das zu privaten Aufträgen an die Boston Consulting Group für die Infektions-Warn-App - die App selbst wurde von SAP, Deutsche Telekom AG und Nexenio entwickelt.

Schon 2005 hatte die Bundesregierungen unter Kanzlerin Angela Merkel die private gematik GmbH gegründet: Sie soll die elektronische Gesundheitskarte entwickeln. Spahn ging noch einen Schritt weiter: Er entmachtete 2019 die bisher noch beteiligten Träger des Gesundheitswesens wie die Ärztekammer und ersetzte den bisherigen Geschäftsführer durch den Pharma-Manager Markus Diecken: Der kommt vom Generika-Weltmarktführer, dem israelischen Teva-Konzern, und erhält ein doppelt so hohes Gehalt wie sein Vorgänger.

99 Millionen Euro für Beratungen

Wie viel Geld hat die Bundesregierung für Berater ausgegeben?

Werner Rügemer: Insbesondere das Gesundheits- und das Wirtschaftsministerium haben für private Beratungskonzerne noch nie so viel ausgegeben wie im Corona-Jahr 2020. Allein für den notorischen Betrugshelfer Ernst&Young (EY, zuletzt bekannt geworden als Wirtschafts"prüfer" beim Betrugsunternehmen Wirecard) gab das Spahn-Ministerium 40 Millionen Euro aus, um den Einkauf von Masken und Schutzausrüstung zu organisieren.

Mit der PR-Agentur Scholz&Friends schloss Spahn einen Vier-Jahres-Vertrag über 22 Millionen Euro, um sich für die öffentliche Corona-Kommunikation beraten zu lassen. Das Altmaier-Ministerium zahlte 29 Millionen Euro an den privaten IT-Dienstleister Init GmbH für ein Programm zur Auszahlung von Corona-Hilfen.

Weitere private Corona-Berater sind, so die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Linken im Bundestag: Accenture (größte Unternehmensberatung der Welt, die auch die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter umstrukturiert), die Bank Rothschild, die McKinsey-Tochter Orphoz, neben EY die weiteren Wirtschafts"prüfer" Price Waterhouse Coopers und Oliver Wyman sowie die Wirtschaftskanzleien Noerr und Hogan Lovells.