"Manche suchen Zuflucht in vereinfachten Weltbildern"

Fabian Scheidler. Bild: privat/ Piper-Verlag

Der Autor Fabian Scheidler über die Corona-Pandemie als Teil einer umfassenderen Krise, die Rolle unseres Wirtschaftssystems und falsche Heilslehren

Als "großen Wurf" bewertete der Umweltwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker das neue Buch von Fabian Scheidler zur ökologischen Krise und dem Klimachaos als zentralen Gefahren für die Zukunft der Menschheit. Scheidler diagnostiziert darin das technokratische Weltbild als eine der Ursachen; die Auffassung der Natur als beherrschbarer Ressource, dem Menschen unterstellt.

Der Autor widmet sich damit einem alten Motiv von Wissenschaft und Philosophie, der von der vielfach instrumentalisierten Dominium terrae aus Genesis 1,28 bis hin zur Neuzeit führt, etwa zu dem südamerikanischen Befreiungskämpfer Simón Bolívar, der nach einem verheerenden Erdbeben 1812 gesagt haben soll: "Wenn die Natur sich uns widersetzt, werden wir sie bekämpfen und sie dazu bringen, uns zu gehorchen!" Bolívar habe damit, so die Überlieferung, auf die Darstellung des spanientreuen Klerus geantwortet, der die Naturkatastrophe als Rache der Natur an dem Aufstand gegen König Ferdinand VII. bezeichnet hatte.

In einer umfassenden Darstellung der Wissenschaftsgeschichte, zeigt Scheidler auf, dass die Auffassung der Natur als beherrschbarer Ressource und Gewalt "ein tödlicher Irrtum ist", so sein Verlag, Piper. Dem Autor gelinge so ein überraschend neuer Blick auf das Leben, die Wissenschaft und letztlich den Menschen selbst.

Telepolis sprach mit Scheidler über sein neues Buch Der Stoff, aus dem wir sind, Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen und die Schlussfolgerungen für den Umgang mit der andauernden Corona-Pandemie.

Herr Scheidler, können wir aus der andauernden Corona-Pandemie etwas über unser Verhältnis als Menschen zur Natur lernen?

Fabian Scheidler: Etwa 70 Prozent der Erreger der neuartigen Epidemien und Pandemien der letzten Jahrzehnte stammen von Tieren. Ein Drittel davon entstammt der Nutztierhaltung, zwei Drittel wilden Tieren. Bei wilden Tieren ist es vor allem die Zerstörung der natürlichen Lebensräume, die die Tiere zwingt, in menschliche Siedlungen vorzustoßen. Dadurch gelangen die Erreger in unsere Nahrungskette.

Bei Ebola lässt sich das zum Beispiel sehr gut nachvollziehen: Die stärkste Verbreitung hatte der Erreger dort, wo die Abholzungsraten am größten waren. Wir sind Teil eines Wirtschaftssystems, das nicht existieren kann, ohne endlos zu wachsen und immer mehr Natur in Waren zu verwandeln.

Für all die Smartphones, Flachbildschirme und Einbauküchen, die wir in immer schnellerem Rhythmus durch neue ersetzen, für all die Autos, Flugzeuge und Serverparks und nicht zuletzt für den wachsenden Fleischkonsum, müssen Wälder und andere Naturräume in Minen und Abraumhalden verwandelt werden. Auf diese Weise haben wir bereits das größte Artensterben seit 66 Millionen Jahren in Gang gesetzt und das Klimasystem in die Nähe extrem gefährlicher Kipppunkte gebracht.

Corona ist nur ein kleiner Teil dieser viel umfassenderen Krise. Im Herzen dieser Krise steht die technokratische Illusion, wir könnten mit der Natur nach Belieben verfahren, sie abbaggern, zerlegen, neu zusammensetzen und kontrollieren.

Die Corona-Pandemie als Rache der Natur?

Fabian Scheidler: Was man vermenschlicht als Rache beschreiben könnte, ist letztlich der einfachen Tatsache geschuldet, dass alles in der lebenden Natur auf Kreislaufprozessen, auf Feedbackschleifen beruht. Wenn man versucht, in so einem System auf lineare Weise bestimmte Parameter zu maximieren, zum Beispiel den wirtschaftlichen Output, dann wird es unerwartete und vermutlich auch sehr unerfreuliche Nebenwirkungen geben.

Die industrielle Landwirtschaft ist ein weiteres Beispiel dafür. Wenn ich durch massiven Pestizideinsatz die Erträge zu steigern versuche, dann töte ich damit auch die Fressfeinde von Schädlingen und die Mikroorganismen im Boden, ohne die das ganze Ökosystem auf Dauer nicht funktionieren kann. Außerdem entstehen multiresistente Varianten von Schädlingen.

Um das zu kompensieren, muss ich immer mehr Pestizide und immer mehr Dünger aufbringen, bis das ganze System irgendwann am Ende ist und die Erträge einbrechen. Einem solchen Punkt nähern wir uns inzwischen mit vielen globalen Ökosystemen und Nahrungsketten.

Über Zoonosen wurde seit Beginn der Pandemie tatsächlich viel diskutiert. Sehen Sie ein Umdenken, wurden Konsequenzen gezogen?

Fabian Scheidler: Ein Umdenken findet vielleicht bei einigen Menschen auf privater Ebene statt, aber auf der politischen Ebene sehe ich das nicht. Die Konsequenzen zu ziehen, würde ja bedeuten, das Programm der endlosen ökonomischen Expansion, des Wachstums und der Naturbeherrschung aufzugeben. Und das wiederum würde heißen: das Prinzip der endlosen Kapitalakkumulation infrage zu stellen, das seit 500 Jahren den Kern unseres ökonomischen Systems bildet.

Wir brauchen meines Erachtens einen Tiefenumbau unseres Wirtschaftssystems: weg vom Primat der Profitmaximierung, hin zu einer Logik des langfristigen Gemeinwohls. Heute kontrollieren 500 Großkonzerne 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung und zwei Drittel des Welthandels. Diese Kapitalgesellschaften haben aufgrund ihrer juristischen Konstruktion nur einen einzigen Zweck: das eingelegte Kapital vermehren, koste es, was es wolle – und sei es um den Preis eines verwüsteten Planeten.

Wir brauchen stattdessen wirtschaftliche Institutionen, die dem Gemeinwohl dienen, und einen Staat, der diese Institutionen gezielt fördert und nicht die destruktivsten Branchen der Erde. Staaten subventionieren heute laut IWF die fossile Brennstoffindustrie mit 5000 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Die Steuerzahler finanzieren also die Vernichtung des Planeten.

Hinzu kommen massive Förderungen etwa der Auto- und Flugzeugindustrie, allein in Deutschland sind das über 30 Milliarden pro Jahr. Genau diese Strukturen wurden durch die Rettungspakete in der Coronakrise erneut gestützt, statt das Geld in einen überfälligen sozial-ökologischen Umbau zu stecken.

Sie hinterfragen in Ihrem Buch ja sogar das etablierte physikalische Verständnis der Erde, der Dinge, der Moleküle. Welche Weltsicht schlagen Sie vor?

Fabian Scheidler: Die neuzeitlichen Naturwissenschaften sind vor 400 Jahren mit der Vorstellung entstanden, dass die Welt eine große Maschine sei, die sich vom Menschen beherrschen ließe. Man glaubte, dass alles in der Natur auf den Stößen von sehr kleinen billardkugelartigen Teilchen beruhe und sich daher berechnen ließe wie der Flug von Kanonenkugeln.

Die moderne Physik hat aber gezeigt, dass im Innersten dessen, was wir Materie nennen, gar nichts Festes existiert, sondern nur ein schwingendes Gewebe von Energiefeldern, die das ganze Universum durchziehen und sich merkwürdiger verhalten als die Figuren in Alice im Wunderland.

Zugleich musste man in der Biologie erkennen, dass der mechanistische Ansatz nicht dazu geeignet ist, Leben wirklich zu verstehen. Leben ist, das lehrt uns der junge Forschungsbereich der Biosemiotik, durch den Austausch von Botschaften organisiert, nicht durch mechanische Stöße.

Und Leben kann auch etwas hervorbringen, was heute noch genauso rätselhaft ist wie zu Zeiten von Platon oder Descartes: Bewusstsein. Damit ist nicht allein die menschliche Reflexionsfähigkeit gemeint, sondern der Umstand, dass Menschen – und vermutlich auch viele Tiere – einen inneren Erlebnisraum haben, eine Welt von Farben, Gerüchen, Gefühlen und Bildern, der sich nicht auf äußere Beschreibungen unserer Gehirngewebes reduzieren lässt.

Nimmt man das alles zusammen, dann zeigt sich, dass die Naturwissenschaften keineswegs eine trostlose mechanische Natur entdeckt haben, sondern eine Welt der Verbundenheit und Selbstorganisation. Sie haben die Natur auch keineswegs "entzaubert", sondern im Gegenteil die Rätsel unserer Existenz immer deutlicher hervortreten lassen. Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman drückte es so aus: "Die Wissenschaft kann dem Mysterium einer Blume nie etwas wegnehmen, sondern immer nur etwas hinzufügen."