Sinkende Tarifbindung in der Klassengesellschaft

Das ist durchaus politisch gewollt. Die Weichen dafür wurden schon vor Jahrzehnten gelegt

Im vorigen Jahr hatten 43 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag, wie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung am Mittwoch zu einer Befragung von rund 16.000 Betrieben mitteilte: "Die Tarifbindung ist dabei im Westen deutlich höher als im Osten."

Rund 45 Prozent der westdeutschen und 32 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten arbeiteten in einem Betrieb, in dem ein Branchentarifvertrag galt. 2019 traf dies noch auf 46 Prozent im Westen und 34 Prozent im Osten zu.

Im Jahr 2020 waren in Ostdeutschland 36 Prozent der Beschäftigten durch einen Betriebsrat vertreten, in Westdeutschland traf dies auf 40 Prozent zu. In den letzten Jahren hat sich der langjährige Rückstand Ostdeutschlands bei der betrieblichen Mitbestimmung verringert. Diese Annäherung beruht auf einer rückläufigen Reichweite im Westen und einer Zunahme im Osten. Lag 2016 der Anteil der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat im Westen noch 9 Prozentpunkte über der im Osten, betrug der Abstand 2020 4 Prozentpunkte.

Dabei plädieren nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch Teile der Wirtschaft für mehr Tarifbindung als Ausdruck einer wirtschaftsfriedlichen Gesellschaftsentwicklung. So haben auch große Teile der Wirtschaft lange Zeit die Tarifbindung als "Modell Deutschland", als Kooperation zwischen Kapital und Arbeit, gelobt und von Streik-erfahrenen Ländern wie Frankreich oder Italien abgegrenzt.

Das war natürlich weitgehend Ideologie. Sie wurde vonseiten des Kapitals so lange gebraucht, solange es Klassenkämpfe fürchten musste.

Kapital kann auf Kooperation mit den Gewerkschaften verzichten

Je schwächer aber die Gewerkschaften wurden, desto mehr wurde vor allem vonseiten des Kapitals die Kooperation mit ihnen aufgekündigt. Es sind jetzt vor allem die Gewerkschaften, die das beklagen und die Tarifbindung des Kapitals einfordern. Dabei beteuern sie meistens schon im Voraus, welch große Dienste die Kooperation zwischen Kapital und Arbeit in Deutschland für den Wirtschaftsstandort Deutschland geleistet hat. Tatsächlich hat die sinkende Tarifbindung natürlich auch ihre Ursachen in der Umstrukturierung der Wirtschaft.

Zentrale Branchen der fordistischen Wirtschaft, die lange Jahre gewerkschaftlich gut organisiert waren, sind geschrumpft oder ganz verschwunden. Vermehrt haben sich Tätigkeiten und die Berufe in prekären Beschäftigungsverhältnissen, in denen eine gewerkschaftliche Organisierung schwer, aber nicht unmöglich ist.

Diese Entwicklung hat der Soziologe Robin De Greef am Beispiel der gewerkschaftlichen Organisierung in der Berliner Lieferbranche in dem im Verlag Die Buchmacherei erschienenen Buch "Rider United" exemplarisch beschrieben.

Labor für tariffreie Zone in Ostdeutschland

Doch neben den wirtschaftlichen Veränderungen muss an die Verantwortung der Politik erinnert werden. Kritische Historiker wie Karl Heinz Roth haben schon vor über 30 Jahren beschrieben, wie die ehemalige DDR zum Labor für eine tarifvertragsfreie Zone gemacht wurde. Die Weichen wurden Anfang der 1990er-Jahre gestellt. Auch Teile der DGB-Eliten haben ihren Anteil daran.

Man braucht nur an den Kampf um die 35-Stunden-Woche im Osten im Jahr 2003 zu erinnern. Es war ein eigenständiger Arbeitskampf der IG-Metall auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, der nicht nur von der Kapitalseite, sondern auch von Betriebsratsfürsten aus der BRD sabotiert wurde, sodass er schließlich scheiterte. Die Folge war eine große Enttäuschung über die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der DGB-Gewerkschaften, was natürlich die Tarifbindung nicht erhöht hat.

Wenn jetzt über die schwindende Tarifbindung lamentiert wird, ist es meistens die Klage über den mangelnden Zusammenhalt der Gesellschaft und die Sehnsucht nach der Rückkehr zum sozialdemokratischen Klassenkompromiss. Das ist aber nur rückwärtsgewandte Ideologie. Doch es gibt auch Kritiker der schwindenden Tarifbindung, die sich vor allem um die Kampfbereitschaft der Lohnabhängigen Sorgen machen.

Ist es verfassungsfeindlich von Klassengesellschaft zu reden?

Sie sollten sich aber vergegenwärtigen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, wenn es auch verpönt ist, darüber zu reden. Vielleicht gilt es sogar bald schon als verfassungsfeindlich, Deutschland als Klassengesellschaft zu charakterisieren. Diesen Eindruck muss man haben, nachdem die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Bundestagsabgeordneten der Links-Partei bekannt wurde.

Sie wollten wissen, warum die sich selbst als marxistisch klassifizierende Tageszeitung junge Welt vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Eine der Begründungen für die Beobachtung lautet, dass die junge Welt als marxistische Zeitung von der Existenz von Klassen in der Gesellschaft ausgehe.

Auf die Frage, gegen welche Grundprinzipien der Verfassung da verstoßen würde, heißt es in der Antwort der Bundesregierung:

Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum "bloßen Objekt" degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.

Aus der Antwort der Bundesregierung

Interessant ist, dass sich die Arbeiterbewegung selbstständig und unter großem Widerstand von Staat und Kapital Organisationen aufgebaut hat, um ihre Forderungen kollektiv durchzusetzen.

Zum bloßen Objekt stilisiert wird sie vielmehr durch die kapitalistische Zurichtung. Sind die Beschäftigten vereinzelt, dann ist dieser Zustand auch viel besser aufrechtzuerhalten. Insofern ist auch die sinkende Tarifbindung ein Teil des Klassenkampfes, aber von oben nach unten.