Grünen-Wahlprogramm: Im Zweifel für das Kanzleramt

Für Wahlberechtigte muss es frisch aussehen, für mögliche Koalitionspartner aber eingehegt. Dieses Dilemma prägte die Programmdebatte der Grünen. Foto: Лариса Мозговая auf Pixabay (Public Domain)

Trotz knapper Abstimmungsergebnisse in einzelnen Punkten und gescheiterten Vorstößen der Jugend nach links beschlossen 98 Prozent der Grünen-Delegierten "diszipliniert und pragmatisch" das Gesamtprogramm

Baden-Württembergs Landesvater Winfried Kretschmann, der seit fünf Jahren einer "grün-schwarzen" Koalition vorsteht, war jedenfalls voll des Lobes für die Kanzlerkandidatin seiner Partei: "Annalena steht für eine neue politische Stärke und zeitgemäße Führung", sagte Kretschmann in einem Grußwort zum digitalen Parteitag der Grünen am Wochenende. "Mit Annalena an der Spitze können wir das scheinbar Unmögliche möglich machen: zum ersten Mal stärkste Partei auch im Bund, zum ersten Mal Kanzleramt", frohlockte Kretschmann. Angriffe gegen die Grünen seien "als Ausdruck der Angst unserer Mitbewerber" zu werten.

Ängste, die über reines Konkurrenzdenken hinausgehen, scheint es zumindest in einer Kapitalfraktion zu geben, denn die Lobbyorganisation "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) hatte kurz vor dem Parteitag eine Anzeigenkampagne unter dem Motto "Wir brauchen keine Staatsreligion" gestartet, in der Annalena Baerbock als Moses mit den "zehn Verboten" dargestellt wurde. Unter anderem hieß es auf den Steintafeln "Du sollst nicht fliegen", "Du darfst nicht am Freihandel teilnehmen" und "Du sollst kein Auto mit Verbrennungsmotor fahren". Die Anzeigen wurden in überregionalen Medien geschaltet.

Allerdings distanzierte sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) umgehend von der Kampagne: "Persönliche Herabsetzungen und eine misslingende Verwendung christlicher Symbolik sind kein angemessener Umgang im notwendigen Wettstreit um politische Inhalte", teilte sie mit.

"Pakt" mit der Industrie vorgeschlagen

Baerbock selbst schlug in ihrer Parteitagsrede der deutschen Industrie einen "Pakt" vor: Die verbindliche Verabredung, dass der Staat den Unternehmen die Kosten erstatte, die sie aufbringen müssten, um klimaneutral zu wirtschaften. "Statt zu verhindern und abzuwehren, will ich ermöglichen", so die Kanzlerkandidatin. Der frühere Siemens-Chef Josef Kaeser erklärte in seiner Gastrede am Samstagabend, ihm gefalle "der Anspruch einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft, denn dieser Anspruch verbindet die großen Themen unserer Zeit". Er könne zwar nicht für alle Unternehmen der deutschen Wirtschaft sprechen, aber Siemens stehe hinter diesem Anspruch.

Dass ausgerechnet Winfried Kretschmann Baerbock über den grünen Klee lobt, könnte die Unternehmerverbände insgesamt beruhigen, sollte aber den Wahlberechtigten zu denken geben, die sich von ihr einen grundlegenden Politikwechsel versprechen. Denn Kretschmann regiert Baden-Württemberg seit zehn Jahren, davon fünf im Bündnis mit der CDU, und hat mehrfach das Gegenteil dessen getan, womit sich die Grünen im Wahlkampf brüsten. Der Schulstreikbewegung Fridays for Future drohte er mit Sanktionen - und im vergangenen Jahr wollte er sogar noch Kaufprämien für Autos mit Verbrennungsmotor durchsetzen. Auch mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) war er dabei voll auf einer Wellenlänge. Bei der Grünen Jugend ist Kretschmann dafür eher unbeliebt: Die Nachwuchsorganisation seiner Partei war massiv verärgert über die Neuauflage von "Grün-Schwarz" in Baden-Württemberg nach der Landtagswahl im März.

Allerdings sprach Kretschmann sein Lob für Baerbock erst am Sonntag aus - und da hatten bereits 98,5 Prozent der Delegierten sie als Kanzlerkandidatin bestätigt. Damit steht sie nur um 1,5 Prozentpunkte schlechter da als eins der "Mister 100 Prozent" der SPD, Martin Schulz, bei seiner Kür zum Kanzlerkandidaten im März 2017. Im Falle Baerbocks wurde in derselben Online-Abstimmung auch bestätigt, dass sie und ihr Ko-Vorsitzender Robert Habeck das Wahlkampf-Spitzenduo der Grünen für die Bundestagswahl am 26. September dieses Jahres bilden. 678 von 688 Delegierten votierten dafür. Wer in der Schule von Geschichts- und Sozialkundelehrern gehört hat, solche "Volkskammer-Ergebnisse" seien ein Zeichen des Mangels an demokratischer Streitkultur in der DDR gewesen, ist eben schon nicht mehr ganz jung.

Viele hadern noch mit Kampfdrohnen

Allerdings gab es bei den Grünen am Wochenende auch deutlich knappere Abstimmungsergebnisse, als es um einzelne Punkte in deren Wahlprogramm ging. Mit bewaffneten Drohnen für die Bundeswehr hadert zum Beispiel noch eine ziemlich große Minderheit. Allerdings hat eine hauchdünne Mehrheit den Weg dafür freigemacht - Enthaltungen nicht mitgezählt: Zuerst müsse das Einsatzszenario betrachtet werden, heißt es nun im Programm. Wenn Kampfdrohnen dann dem Schutz von Bundeswehrsoldaten im Einsatzgebiet dienen, soll ihr Einsatz grundsätzlich möglich sein. Für diesen Antrag hatte sich unter anderem der ehemalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin ausgesprochen. 347 von 728 Delegierten waren dafür - ein Gegenantrag, mit dem der Einsatz ausgeschlossen werden sollte, erhielt allerdings nur 343 Stimmen.

Keine Mehrheit fand dagegen ein Antrag der Grünen Jugend, die Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen zu ermöglichen - damit wäre eine Koalition mit den Unionsparteien faktisch auszuschließen gewesen. Niedergestimmt wurden auch die Anträge, das Arbeitslosengeld II um 200 Euro im Monat anzuheben und den Mindestlohn auf 13 Euro pro Stunde zu erhöhen. Stattdessen stimmte die Mehrheit für eine Anhebung der Lohnersatzleistung um 50 Euro und einen Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde. Der Spitzensteuersatz soll von 42 auf 48 Prozent erhöht werden - Ein Antrag für einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent scheiterte in der Abstimmung am Samstagabend.

Gescheitert ist auch der Antrag, Autos mit Verbrennungsmotor schon ab 2025 nicht mehr neu zuzulassen. Laut Wahlprogramm soll dies erst ab 2030 der Fall sein. Auch bei der CO2-Bepreisung blieb es beim Vorschlag des Parteivorstands: Der Preis für eine ausgestoßene Tonne CO2 soll bis 2023 auf 60 Euro erhöht werden, die Einnahmen sollen als "Energiegeld" zurück an die Bevölkerung fließen. Eine höhere Bepreisung nebst Sozialausgleich hatte unter anderem der Klima-Aktivist Jakob Blasel gefordert, der Antrag konnte sich aber nicht durchsetzen.

Anders als vom Bundesvorstand vorgeschlagen sprachen sich die Delegierten aber mehrheitlich gegen den Einsatz von Staatstrojanern beziehungsweise Quellentelekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) aus.

Peters: Programm nicht mit Unionsparteien kompatibel

Insgesamt wurde das Wahlprogramm schließlich mit 98 Prozent der Delegiertenstimmen angenommen. In der ARD-tagesschau hieß es anschließend, die Grünen hätten sich damit für den Kurs aufs Kanzleramt entschieden und gegen "Maximalforderungen". Die taz nannte das Abstimmungsverhalten der Delegierten "diszipliniert und pragmatsich". Nach Einschätzung der Bundessprecherin der Grünen Jugend, Anna Peters, ist die Endversion des Wahlprogramms trotz mancher Punkte, in denen sich die Nachwuchsorganisation nicht durchsetzen konnte, immer noch links genug, um keine Koalition mit den Unionsparteien eingehen zu können. Zumindest, wenn die eigenen Wahlversprechen ernst genommen werden.

"Natürlich sind wir nicht mit allem komplett zufrieden, aber ich glaube dieses Parteiprogramm ist ein sehr starkes Parteiprogramm, es ist ein linkes Parteiprogramm, und wenn man die Punkte unseres Parteiprogramms ernst nimmt, dann kann man meiner Meinung nach nicht in eine Koalition mit der CDU/CSU gehen", sagte Peters am Rande des Parteitags im Gespräch mit dem Sender Phoenix. Kretschmanns Entscheidung für die Neuauflage einer solchen Koalition in Baden-Württemberg hatte sie im Frühjahr gegenüber Telepolis als "Schlag ins Gesicht" bezeichnet. Aus ihrer Sicht hätten Teile der Basis sich kaum am Wahlkampf beteiligt, wenn ihnen das vorher klar gewesen wäre.