"Die Kritik am Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist ein Anfang"

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#IchBinHanna, Wissenschaft und Kontrolle des Systems: Gespräch mit dem Philosophen Daniel-Pascal Zorn

Wer Daniel-Pascal Zorn auf Twitter folgt, der erlebt einen engagierten, scharfsinnigen Denker ("Logik für Demokraten", "Das Geheimnis der Gewalt"). Die sozialen Medien sind für den Philosophen nicht einfach Kommunikationsplattformen. Vielmehr nutzt er den Austausch für intensive Diskussionen. Er interveniert, seziert und zieht jeder Polemik den faulen argumentativen Zahn. Lange vor #IchBinHanna, dem gegenwärtigen Protest des akademischen Mittelbaus gegen prekäre Arbeitsbedingungen, hat sich Zorn kritisch über den Zustand der Universität und der Wissenschaft geäußert.

Herr Zorn, unter dem #IchBinHanna wehren sich Wissenschaftler aus dem Mittelbau der Hochschulen gegen die prekären Beschäftigungsverhältnisse. Diese existieren seit Jahren. Wieso formiert sich erst jetzt so großer Widerstand gegen diese Zustände?

Daniel-Pascal Zorn: Das ist zum Großteil den Initiator:innen dieses Widerstands zu verdanken, die seit Monaten auf Missstände in der Wissenschaft aufmerksam machen und sie für Nichtwissenschaftler:innen verständlich erklären. Aber auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat seinen Anteil daran: Erst das Erklärvideo des Ministeriums von 2018, dessen unglückliche Formulierungen die Kritikpunkte unfreiwillig auf den Punkt bringen, hat dem Anliegen von #IchbinHanna in den sozialen Netzwerken Breitenwirkung ermöglicht.

Dass der Protest, den viele Akteure an Hochschulen, in Gewerkschaften und in der Politik seit Jahren vertreten, nun so deutlich sichtbar wird, ist nicht nur gescheiterter Politik, sondern auch gescheiterter Politikvermittlung zu verdanken.

In der Kritik steht vor allem das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung betrachtet die Befristungen der Verträge im Wissenschaftsbetrieb als Motor für Innovation. In den 95 Thesen gegen das Gesetz zeigen ihre Kollegen, die Philosophin Amrei Bahr, der Historiker Sebastian Kubon und die Literaturwissenschaftlerin Kristin Eichkorn, dass diese Logik in keiner Weise aufgeht. Das System führt zu unnötigen bürokratischen Apparaten, verhindert nachhaltige Forschung und treibt frustrierte Wissenschaftler:innen ins Ausland (Brain Drain). Wieso halten so viele Kräfte an diesen Praktiken fest?

Daniel-Pascal Zorn: Die beste Kontrolle erreicht man, indem man Menschen dazu bringt, an das System zu glauben, in das sie ihre Ressourcen investieren sollen. Das gilt für Schneeballsysteme genauso wie für das aktuelle Bildungssystem. Die jungen Leute hoffen auf eine Karriere an der Akademie, weil die Werbeprospekte der Universitäten ihnen genau das versprechen. Natürlich gibt es auch einige, die von dem aktuellen System profitieren. Das ist ein klassisches Anreizsystem: Man bekommt einen Bonus, wenn man mehr Doktorand:innen und mehr Veröffentlichungen produziert und einen Malus, wenn man hinter den Erwartungen zurückbleibt.

Kaum Luft zum Atmen, Lesen und Lernen

Das heißt, alle werden in einem ständigen Modus der Beschäftigung gehalten?

Daniel-Pascal Zorn: So ist es. Alle haben genug damit zu tun, sich über Wasser zu halten. Die Studierenden werden in enge Zeit- und Studienordnungen eingebunden, die ihnen kaum Luft zum Atmen, Lesen und Lernen lassen, denn viele müssen ihr Studium zusätzlich durch Nebenjobs finanzieren. Auch ihre Dozent:innen sind fortlaufend damit beschäftigt, sich um die eigene Finanzierung zu kümmern, um die nächste befristete Stelle antreten zu können. Mittelbau und Professor:innen werden zusätzlich mit immer neuen Verwaltungs- und Gremienaufgaben beschäftigt.

Wer ständig zu tun hat, hat schlicht nicht die Zeit, gegen das System aufzustehen. Das ist die klassische Logik der Privatisierung und ihrer erpresserischen Funktion: Wissenschaftler:innen sollen forschen, lehren, publizieren, verwalten und sich selbst finanzieren. Jeder ist eine akademische Ich-AG. Die harte Konkurrenz um die wenigen Stellen und die undurchsichtig vergebenen Drittmittel vereinzeln die Akteure und verhindern ihren Zusammenschluss.

Das reicht bis auf die Ebene der Universitäten selbst, die nicht einfach funktionieren dürfen, sondern sich für den Wettkampf um den Titel der "Exzellenz" im ständigen Ausnahmezustand befinden. Als Output erwartet man dann von allen höchste Qualität, für den internationalen Vergleich. Vielen ist gar nicht bewusst wie effizient dieses System bis jetzt jeglichen Widerstand im Keim erstickt hat.

Kontrolle des gesellschaftskritischen Potenzials

#IchBinHanna lässt also eine gnadenlose Ökonomisierung der Forschung sichtbar werden. Menschen, die mit der Wissenschaft bisher nicht Berührung gekommen sind, dürften überrascht sein. Schließlich spricht man immer gern von der Freiheit der Wissenschaft. Sind diese Zustände eine Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit?

Daniel-Pascal Zorn: Das sind sie, doch hier darf man sich keine Illusionen machen: Die Hochschulen waren immer der Beeinflussung von außen ausgesetzt. Wissenschaftsfreiheit ist nicht nur ein hehres, abstraktes Ideal, sondern auch Möglichkeitsbedingung von Wissenschaft. Zugleich produzieren Universitäten Fachkräfte und Prestige, was sie interessant für politische Einflussnahme macht. Meistens stellt man sich eine solche Einflussnahme ideologisch vor. Doch eine Einflussnahme funktioniert viel besser, wenn man gar nicht die Inhalte, sondern die Systemprozesse selbst kontrolliert.

Die Universität wird zu einer Ausbildungsstätte für die Wirtschaft. Kann man das so sagen?

Daniel-Pascal Zorn: Diese Transformation geschieht an deutschen Universitäten schon seit sechzig Jahren, angefangen mit den Reformvorhaben der 1960er Jahre. Der demographische Wandel machte die vielen jungen Leute als zukünftige Fachkräfte für die Wirtschaft interessant. Das Studium sollte die effiziente Ausbildung dazu liefern. In den folgenden Jahrzehnten wurden, nach den Studierenden, immer mehr Bereiche der Universität einem ökonomischen Regime unterworfen: Die Fächer und Fakultäten, die Verwaltung und die Finanzierung, schließlich die Universität selbst.

Der angenehme Nebeneffekt ist hier, dass man damit auch das gesellschaftskritische Potenzial und damit die Kritik an diesem System selbst mit kontrolliert. Man macht die Universität zum "Durchlauferhitzer zur schnellen Produktion praktisch verwertbarer Forschungsergebnisse", wie es der Düsseldorfer Historiker Prof. Dr. Achim Landwehr ausdrückt, und zieht ihr zugleich die Krallen, sich gegen diese Zurichtung zur Wehr zu setzen.

Die Kritik an der Ökonomisierung der Universitäten muss viel weiter gehen

Immerhin hat sich Frau Karlicek zu Wort gemeldet und die Länder und die Universität in die Pflicht genommen. Das Bundesministerium sei nicht der richtige Adressat für diese Kritik. Zeichnet sich hier ein Erfolg für #IchBinHanna ab?

Daniel-Pascal Zorn: Auf jeden Fall. Das Ministerium und die Ministerin wurden offenbar auf dem falschen Fuß erwischt. Und die mittlerweile vier verschiedenen Antworten, die vom Bildungsministerium und der Bildungsministerin gegeben wurden, zeigen doch gerade, dass das Bildungsministerium Verantwortung trägt. Natürlich ist der Bildungssektor auch deswegen so anfällig für die gerade beschriebenen Formen von Kontrolle, weil man durch die Länderzuständigkeit die Verantwortung politisch auf verschiedene Schultern verteilen kann. Man muss also genau hinsehen.

Wann beginnt in ihren Augen der ökonomische Einfluss auf die Universitäten? Reicht die Kritik am Wissenschaftszeitvertragsgesetz aus?

Daniel-Pascal Zorn: Die Kritik am Wissenschaftszeitvertragsgesetz ist ein Anfang. Aber die Kritik an der Ökonomisierung der Universitäten muss viel weitergehen. Man sollte sich nicht mit bloßen Symptombehandlungen abspeisen lassen.

Gerade die Geisteswissenschaftler:innen werden im Zuge der Debatte scharf attackiert: Wer solch unnütze Dinge studiere, der solle sich nicht wundern, wenn er am Ende keinen Job findet. Wie steht es um die Geisteswissenschaften in Deutschland?

Daniel-Pascal Zorn: Die Geisteswissenschaften stehen unter einem besonderen Druck, weil ihre Forschung keine unmittelbar technologisch oder wirtschaftlich verwertbaren Ergebnisse erbringt. Gerade deswegen sind sie aber auch der Indikator für das, was vorhin als "Wissenschaftsfreiheit" angesprochen wurde. Wenn die Geisteswissenschaften unter Voraussetzung der gleichen ökonomischen Ideologie, die auch das Bildungssystem fest im Griff hat, als "unnütz" oder gar als "Geschwätz" diffamiert werden, ist das alarmierend.

Die Geistes- und Sozialwissenschaften bieten das dringend benötigte Potenzial, um diesen festen Griff analytisch-kritisch anzugehen: Sie können deutlich machen, welche Argumente bloße Scheinargumente sind, wo mit Wissenschaft getrickst wird, welche Geschichte Entwicklungen haben, die als alternativlos dargestellt werden und warum das System so gut funktioniert wie es eben funktioniert. Sie lassen uns verstehen, was passiert. Verlieren wir sie, verlieren wir den Ort, von dem aus wir uns kritisch zu dem System verhalten können.

"Wissenschaft muss radikal frei sein"

Welche Rolle spielt die Politik bei dieser feindlichen Stimmung/abschätzigen Haltung gegenüber Geisteswissenschaftler:innen? Lässt sich gar von einer Intellektuellenfeindlichkeit sprechen? Immerhin wurde die Figur des Intellektuellen vom Experten und Unternehmensberater abgelöst.

Daniel-Pascal Zorn: Ich denke, dass die Bedrohung durch die stillen Sachzwänge des aktuellen Bildungssystems viel größer ist als durch ein paar Trolle im Internet. Natürlich hilft Ressentiment immer, wenn es um die Durchsetzung einer Ordnung geht, in der die Menschen einander tendenziell als Feinde und Konkurrenten sehen und nicht als Mitstreiter. Und es ist für manche Menschen eine einfache Möglichkeit, sich über andere zu erheben. Dass sie dabei helfen, am Ende auch die eigenen Möglichkeiten immer weiter einzuschränken, wissen viele nicht.

Wenn Sie eine Utopie zeichnen könnten, wie sähe die deutsche Universität aus?

Daniel-Pascal Zorn: Ich denke nicht, dass die Utopie der Maßstab ist, an dem man die Universität messen sollte. Die Universität ist die Heimat der Wissenschaft. Wissenschaft muss radikal frei sein, um Urteile fällen zu können, die dann auch für nichtwissenschaftliche Zwecke nützlich werden können. Eine am Maßstab des Nutzens ausgerichtete Wissenschaft wird irgendwann nutzlos, weil sie nur noch die Wege kennt, die ihr als nützlich vorgegeben werden.

Wer "Innovation" und "Kreativität" fordert, muss den Wissenschaften und akademischen Disziplinen auch die Freiheit gewähren, die sie brauchen, um für die Gesellschaft ihr Bestes geben zu können. Das bedeutet in erster Linie, Zeit zum Forschen einzuräumen, die nicht von existenziellen Ängsten geprägt ist.

Es geht eben nicht um ein libertäres Utopia, in dem Wissenschaftler:innen tun und lassen können, was sie wollen. Das ist nur ein Popanz, der immer wieder aufgebaut wird, auch in anderen Bereichen.

Man will die Menschen spalten, indem man manche als Systemschmarotzer ausweist. Nein, es geht darum, das Gleichgewicht zu wahren zwischen der effizienten Organisation und der Freiheit der Forschung - und das ist ein Problem, das man nicht mit politischen Phrasen lösen kann, sondern nur mit einer umfassenden Überprüfung des aktuellen Systems.