"Solche Geschichten machen während jeder Pandemie die Runde"

Gunnar Jeremias über die Labor-These, Sars-CoV-2 und die Gefahren der biologischen Forschung

Gunnar Jeremias ist Politikwissenschaftler und leitet die Interdisziplinären Forschungsgruppe zur Analyse biologischer Risiken (INFABRI) an der Universität Hamburg.

Herr Jeremias, als Experte für gefährliche biologische Forschung haben Sie bereits letztes Jahr im April Stellung zu der These genommen, die Covid-19-Pandemie gehe auf einen Laborunfall zurück. Damals haben Sie diese Theorie entschieden als abwegig bezeichnet. Wie sehen Sie es heute?

Gunnar Jeremias: Eigentlich noch genauso. Ich habe auch damals die Laborthese nicht völlig ausgeschlossen, sondern nur als äußerst unwahrscheinlich bezeichnet. Das ist sie weiterhin. Das Virus, das uns letztes Jahr heimgesucht hat, wurde nicht in einem Labor mit gentechnischen Mitteln bearbeitet. Allerdings wäre prinzipiell denkbar, dass eine Probe einen Mitarbeiter infiziert hat oder eine gefangene infizierte Fledermaus ausgebrochen ist. Dann hätten die Wissenschaftler das Virus sozusagen nach Wuhan verschleppt. Aber auch davon gehe ich nicht aus. Sars-CoV-2 ist jedenfalls ein Wildtyp.

Aber gerade das ist doch umstritten. Jedenfalls gibt es eine Gruppe unter den Virologen und Biologen, die Hinweise für eine gentechnische Manipulation sehen. Zahlreiche Experten möchten einen Laborunfall zumindest nicht prinzipiell ausschließen. Manche verweisen darauf, dass im Virologischen Zentrum Wuhan mit Fledermaus-Coronaviren experimentiert wurde. Dabei wurde unter anderem die Übertragbarkeit der Erreger verändert, im Rahmen der sogenannten gain of function-Forschung (GOFF).

Gunnar Jeremias: Die Gensequenzen von Sars-CoV-2 weisen keine Veränderungen auf, wie sie für GOFF typisch sind. Darauf hat etwa der US-amerikanische Virologe Kristian Andersen schon im März des letzten Jahres hingewiesen. In dieser Debatte wird der virologischen Gentechnik zu viel zugetraut. Sars-COV-2 unterscheidet sich ja offensichtlich von den anderen bisher bekannten Beta-Coronaviren dadurch, dass es eine Pandemie auslösen kann.

Aber das beste Labor der Welt kann keinen Erreger züchten, der dazu sicher in der Lage wäre. Der "Erfolg" der Manipulation des Genoms steht nicht fest, bis es zu einer Epidemie kommt. Ob die Virulenz oder die Pathogenität des Virus in den lebenden Zellen zunehmen, stellt sich erst später heraus. Sollte irgendjemand bewusst SARS-CoV-2 mit dem Ziel entwickelt haben, eine schlimme Pandemie auszulösen, hätte er nicht gewusst, an welchen Stellen in der RNA des Virus er hätte ansetzen müssen.

Die Spekulationen richten sich darauf, dass das Virus gut an die ACE2-Rezeptormoleküle menschlicher Zellen anbindet und eine besondere Furin-Spaltstelle im Stachelprotein aufweist, die das Eindringen des Virus fördert. Wäre es möglich, solche Eigenschaften synthetisch herzustellen?

Gunnar Jeremias: Theoretisch möglich wäre es wohl, schließlich lassen sich ganze Virus-Genome synthetisieren. Für die Details bin ich aber nicht der beste Ansprechpartner. Aber, wie zuvor erwähnt, es gibt keine Hinweise darauf, dass es so war, und es scheint mir auch nicht plausibel - an derselben Stelle kann es auch zu Veränderungen kommen, die das Virus ungefährlicher machen.

Wegen der aktuellen Diskussion über den Ursprung von Covid-19 haben viele Menschen zum ersten Mal von der experimentellen Virenforschung und ihre Gefahren gehört. Als Wissenschaftler beschäftigen Sie sich schon lange mit Biowaffen, aber auch mit Unfällen in biotechnologischen Anlagen und dem Problem dual use, also dem militärischen Potenzial ziviler Forschung. Begrüßen Sie, dass die Öffentlichkeit auf die GOFF aufmerksam wird?

Gunnar Jeremias: Ja und nein. Einerseits ist eine transparente weltweite Debatte überfällig, welche Forschung wir in diesem Bereich wollen. Anderseits ist die "Laborthese" als Einstieg dazu nur bedingt geeignet. Welche Risiken sind wir bereit einzugehen? Darauf gibt keine einfachen Antworten. Die Eigenschaften von bestimmten Pathogenen im Labor zu verändern, ist sinnvoll, wenn es uns hilft, "vor die Lage zu kommen", wie die Sicherheitsbehörden gerne sagen.

Um uns auf Epidemien vorzubereiten, müssen wir eben die Gefahren kennen, die von den Erregern ausgehen. Andererseits bringt diese Forschung Risiken mit sich, trotz aller Sicherheitsmaßnahmen: Mitarbeiter können infiziert werden oder Erreger entweichen. Außerdem kann das Wissen aus der GOFF missbräuchlich verwendet werden. Nutzen und Risiken der GOFF gilt es abzuwägen. Aber ich fürchte, eine rationale Debatte ist unmöglich, solange wir nicht über die gegenseitigen Schuldzuweisungen hinauskommen.

"Die Suche nach dem Sündenbock schadet"

China und die Vereinigten Staaten verbreiten jeweils eigene Theorien über den Ursprung, die mehr oder weniger glaubwürdig sind. Peking verbreitet etwa die Theorie, dass das Virus über Fleischimporte nach China gekommen ist. Der Nebel der Desinformation macht es schwer, zu einer halbwegs realistischen Einschätzung zu kommen.

Gunnar Jeremias: Mittlerweile kursieren mindestens fünfzig Theorien darüber, wer eigentlich schuld hat an Covid-19. Oft wird dann auch offensive Biowaffen-Forschung hinein gemengt. Präsident Trump, der bekanntlich vom "China-Virus" sprach, hat diese Frage von Anfang an politisch aufgeladen. Die einen Geheimdienste tendieren dahin, die anderen dorthin …

Aber trotz der nationalistischen Töne ist die Frage nach der Schuld doch nicht unerheblich. Denn wenn versehentlich in Wuhan ein gefährliches Virus freigesetzt wurde, müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft und Konsequenzen für die Sicherheitsmaßnahmen gezogen werden. Immerhin hat die Pandemie offiziell vier Millionen Menschen, wahrscheinlich aber deutlich mehr das Leben gekostet.

Gunnar Jeremias: Gut, die Schuldfrage ist nicht nebensächlich, aber sie ist eben nicht entscheidend. Der Westen stellt sich auf ein ziemlich hohes Podest, wenn er die Pandemie auf chinesische Schlamperei zurückführt. Laborsicherheit – insbesondere bei der Forschung mit potenziell pandemiefähigen Erregern – ist ein internationales Problem, das betrifft alle!

Mich erinnert das an die Reaktion auf den Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl. Damals hieß es auch, bei uns könne so etwas nicht passieren, trotz der Störfälle in Sellafield 1957 und in Harrisburg 1979. Auch im Globalen Norden können Pathogene entweichen. Zum Beispiel mussten 2007 in England in Pirbright Hunderttausende Nutztiere gekeult werden, weil die Maul- und Klauenseuche über das Abwasser eines Labors in die Umgegend gelangte.

Wir haben nur Indizien für oder gegen die Laborthese. Beweise gibt es nicht, solange wir die Laborprotokolle aus dem Institut in Wuhan nicht zu Gesicht bekommen, was in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage nicht zu erwarten ist. Wir sollten stattdessen in die Zukunft schauen!

Also ist es ihrer Meinung nach gleichgültig, ob das Virus aus dem Labor kam?

Gunnar Jeremias: Nein, das auch wieder nicht! Wenn wir den Ablauf kennen würden, könnten wir die Sicherheitsvorkehrungen verbessern, um ähnliche Unfälle in Zukunft zu verhindern. Aber auch ohne den Nachweis, dass die Chinesen schuldhaft oder fahrlässig gehandelt haben, müssen wir uns die Frage stellen, welche Risiken der biologischen Forschung wir einzugehen bereit sind. Die logische Konsequenz wäre doch eigentlich, dass wir versuchen, diese Technologie global sicherer machen können.

Halten Sie eine solche Debatte denn für möglich, trotz der gegenwärtigen weltpolitischen Spannungen?

Gunnar Jeremias: Ich würde es mir jedenfalls sehr wünschen. Wir diskutieren in der Fachwelt unter dem Schlagwort dual use research of concern schon lange über solche Gefahren, auch wenn es dabei meist um den möglichen Missbrauch der Technik geht. Im Rahmen des Übereinkommens über das Verbot biologischer Waffen (BWÜ) findet jedes Jahr ein Expertentreffen statt, das nächste im September, dabei wird die Laborthese bestimmt Thema sein. Ich will nicht ausschließen, dass wir Fortschritte im Bereich Biosicherheit in der Forschung erzielen werden. Ein globales Moratorium für vielleicht fünf Jahre wäre sicher sinnvoll, um gemeinsame Regeln zu finden. Andererseits könnte die Suche nach dem Sündenbock diese Debatte von vornherein abwürgen.

Kann ein Erreger aus dem Labor eine Pandemie auslösen? Die meisten Forscher gehen davon aus, dass die Influenza H1N1-Epidemie im Jahr 1977 auf einen Laborunfall zurückgeht.

Gunnar Jeremias: Solche Geschichten machen während jeder Pandemie die Runde. So war es bei HIV, so war es auch bei Ebola, so war es bei der Spanischen Grippe. Jede Epidemie führt dazu, dass die Leute nach Sündenböcken suchen. Noch einmal: Spekulationen führen nicht viel weiter. Natürlich interessiert mich auch, wie es denn nun war, aber weil wir es eben im Moment nicht herauszufinden können, sollten wir lieber konstruktiv überlegen, wie wir mit den Risiken der biologischen Forschung umgehen wollen. Die Labore in Wuhan unterscheiden sich schließlich technisch nicht wesentlich von Hochsicherheitslaboren in anderen Ländern. Das Institut wurde übrigens nach SARS Nummer 1 mit französischer Unterstützung aufgebaut, um die Zoonoosen-Forschung vor Ort zu stärken.

"Gain of function-Forschung ist ein schwammiger Begriff"

Im Virologischen Institut Wuhan wurde mit Coronaviren experimentiert, auch finanziert von US-amerikanischen Gesundheitsbehörden. 2015 veröffentlichte Zhengli Shi, die Direktorin des Zentrums für entstehende Infektionskrankheiten, einen Aufsatz in Nature Medicine, in dem beschrieben wird, wie die Wissenschaftler ein Oberflächenprotein eines Fledermaus-Virus mit einem abgewandelten Sars-COV-1-Virus verbanden und mit dieser Chimäre Zellen im Mäusen infizieren konnten, die menschlichen Atemwegszellen ähneln (Mausmodell). Diese Versuche wurden allerdings angeblich in den USA durchgeführt. Dennoch sorgten sie für einige Aufregung, weil Kritiker den Nutzen für fraglich halten.

Gunnar Jeremias: Zwischen 2014 und 2017 gab es in den USA für Forschungsprojekte, bei denen Influenza-, MERS- oder SARS-Viren schädlicher oder übertragbarer gemacht wurden, grundsätzlich keine staatliche Förderung mehr. Ebendieses Moratorium brachte wahrscheinlich die amerikanischen Virologen dazu, einen Teil der einschlägigen Untersuchungen nach China zu verlagern.

GOFF ist äußerst umstritten. 2005 rekonstruierten Forscher den H1N1-Virus, der die Pandemie 1918 / 1919 verursachte. 2011 gelang es einem Team um den Virologen Ron Fouchier, die Vogelgrippe H5N1 so zu verändern, dass sie über die Luft zwischen Frettchen übertragen werden konnte. Dabei sterben Menschen in etwa 60 Prozent der Fälle, wenn sie aviäre Influenza bekommen. Die Virologen begründen solche ziemlich gefährlichen Versuche damit, dass sie uns helfen würden, künftige Pandemien zu verhindern. Andere bezweifeln diesen praktischen Nutzen. Nun wollen Forscher ja immer gerne experimentieren und neue Erkenntnisse gewinnen - aber sollten wir ihnen diese Entscheidung überlassen?

Gunnar Jeremias: Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber. Wie damals über die Genomeditierung: 1975 kamen auf der Asilomar-Konferenz Mikrobiologen, Gesellschaftswissenschaftler und Vertreter der Zivilgesellschaft zusammen und haben Regeln und Grenzen für diese neue Biotechnologie definiert. Genau das brauchen wir heute für die experimentelle virologische Forschung. Die Gefahren und Potenziale müssen öffentlich besprochen werden. Ehrlich gesagt habe ich selbst keine abschließende Meinung dazu. Es hängt davon ab, inwiefern diese Experimente uns helfen, mit neuen Krankheiten umzugehen.

Konkret geht den Wissenschaftlern darum herauszufinden, wie weit entfernt ein bestimmter Erreger vom Überspringen auf eine andere Gattung oder einen neuen Übertragungsweg ist. Wie gefährlich ist die Art der Forschung?

Gunnar Jeremias: Pauschal lässt sich das schwer sagen. Unfälle sind möglich und können unter Umständen gravierende globale Folgen haben. Dieses Restrisiko lässt sich nicht sinnvoll beziffern. Die Schadensereignisse sind zu selten, um sie versicherungsmathematisch zu beziffern – aber die Gefahr ist eben dennoch real.

Sie haben vorhin den Vergleich mit der Atomkraft gezogen. Tschernobyl führte immerhin dazu, dass die damalige Bundesregierung den Ausstieg aus dieser Form der Energiegewinnung beschloss. Erwarten Sie so etwas auch im Fall GOFF, sollte sich die These vom Laborunfall bestätigen - also ein Verbot oder wenigstens eine striktere Regulierung?

Gunnar Jeremias: GOFF ist leider zu einer Art politischem Kampfbegriff geworden. Seit Jahrzehnten suchen wir nach Kriterien, um das Risiko von wissenschaftlichen experimentellen Verfahren zu beurteilen. 2003 gab es den Fink Report, der sieben Arten von Experimenten auflistete, die zu anfällig für Missbrauch seien. Leider stellte sich dann heraus, dass diese Verfahren regelmäßig von Impfstoffherstellern eingesetzt werden, beispielsweise um herauszufinden, ob ihre Vakzine Resistenzen hervorrufen. Danach haben wir versucht, besonders gefährliche Erreger stärker zu reglementieren.

Aber viele Erkenntnisse und Verfahren aus Experimenten mit weniger gefährlichen Erregern lassen sich mühelos auf die Pathogene auf einer solchen Liste übertragen. Wir können also weder anhand der wissenschaftlichen Aktivitäten noch anhand der Agenzien harte Ausschlusskriterien finden, was erlaubt und was nicht erlaubt sein sollte! In der sogenannten Hochrisikoforschung werden stattdessen Einzelfallentscheidung getroffen - und zwar überall, weil die sogenannte GOFF auf die ein oder andere Art in allen industrialisierten Staaten mit avancierter Viren- und Bakterienforschung betrieben wird.

Von Verschwörungstheoretikern und den US-amerikanischen Nachrichtendiensten wird immer wieder die Behauptung gestreut, in dem Virologischen Institut sei auch Biowaffen-Forschung betrieben worden.

Gunnar Jeremias: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich.

Wie sehr überschneiden sich denn zivile, also medizinische Forschung und militärische insgesamt?

Gunnar Jeremias: Das lässt sich schwer sagen, weil wir über das Verhalten relevanter Akteure wie Russland und China wenig wissen. Die meisten Informationen haben wir über die USA, was das Bild verzerrt. Soweit wir wissen, gibt es derzeit nirgendwo biologische Waffen oder Programme, um sie zu entwickeln und herzustellen. Allerdings ist die Grenze zwischen zivil und militärisch nicht so klar gezogen, wie es wünschenswert wäre.

In den USA zum Beispiel wird "Abwehrforschung" sehr breit verstanden. So wurde der Milzbranderreger, der 2001 nach den Anschlägen von 9/11 verschickt wurde, im Rahmen des Programms zur Verteidigung gegen Biowaffen entwickelt. Das wissen wir, weil es sich um ein speziell erzeugtes Pulver mit Silikon-Mikroenkapsulation handelte.

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