Woher stammt Sars-CoV-2?

Wie die "Laborunfall-These" mein Wochenende ruinierte und ich mich im Nebel der Desinformation verirrte

Zum ersten Mal begegnete mir die "Laborunfall-These" im Frühjahr 2020. US-Präsident Trump und seine Anhänger streuten Gerüchte über die Herkunft des "China-Virus", spekulierten auch über gentechnische Manipulationen und chinesische Biowaffenforschung.

Im Februar reagierten profilierte Wissenschaftler mit einem offenen Brief an das Journal The Lancet und versicherten den chinesischen Kollegen ihre Solidarität. "Gemeinsam verurteilen wir auf schärfste Verschwörungstheorien, denen zufolge Covid-19 keinen natürlichen Ursprung haben soll." Einen Monat später schrieb der Evolutionsbiologe Kristian Andersen, ein renommierter Experte für Coronaviren, und einige Kollegen in Nature Medicine:

Unsere Analyse zeigt klar, dass SARS-COV-2 nicht aus dem Labor stammt oder zielgerichtet manipuliert wurde.

"Ignoriert die Verschwörungstheoretiker", mahnte im Guardian der Zoologe Peter Daszak, ein einflussreicher Vertreter der Zoonosen-Forschung. "Solche Behauptungen sind nur das jüngste Beispiel für Schuldzuweisungen und Desinformation."

Damit scheint mir die Sache klar zu liegen: politisches Interesse hier, wissenschaftliche Objektivität dort, die Spinner hier, die Fachleute dort, kurz: die Laborunfall-These ist Quatsch, vertreten von Leuten, "die auch daran glauben, dass SARS aus dem Weltraum stammt" (Daszak), oder böswillig verbreitet von Nationalisten.

Vor einigen Wochen stoße ich, in einer etwas schmuddeligen Ecke des Internets, wieder auf die Theorie. Aber nun wirkt sie überzeugender, sie verunsichert mich. Denn sie erklärt, warum die Etappen der evolutionären Entstehung des Virus – der Weg vom Tier zum Mensch – bis heute nicht bekannt ist. Sie erklärt, warum die ersten Berichte ausgerechnet aus der Metropole Wuhan in Zentralchina kamen.

Sie erklärt, warum sich SARS Nummer 2, im Gegensatz zu SARS Nummer eins, auf der ganzen Welt ausbreitete und Merkmale in der RNA des Virus, von denen ich zuvor noch nicht gehört hatte. Und sie erklärt obendrein das Verhalten der chinesischen Regierung, aber auch das des wissenschaftlichen Establishments, das mich hinters Licht geführt hat. Eine Reihe von Indizien deuten auf einen Ursprung im Labor hin, und je länger ich von Text zu Text gleite, umso mehr werden es.

Gefährliche Experimente in Wuhan

In Wuhan befindet sich ein Forschungsinstitut, das sich der Erforschung von Coronaviren widmet. Die Angestellten des Wuhan Instituts für Virologie (WIV) sammeln etwa Proben mit Fledermauskot, bringen sie ins Institut und katalogisieren die RNA der Viren. Sie versuchen herauszufinden, wie groß die Gefahr ist, die von ihnen ausgeht - und zu diesem Zweck machen sie die Pathogene in Hochsicherheitslaboren gefährlicher als sie bereits sind.

Sie verbinden unter anderem den Sars-1-Virus mit dem Stachelprotein eines Coronavirus-Wildtyps, der in Fledermäusen zirkuliert und testen, ob diese Chimäre in der Lage ist, menschliche Atemwegszellen zu infizieren. Ebendieses Experiment und viele ähnliche wurden in Wuhan durchgeführt, lese ich.

Auf welche Art erwerben Krankheitserreger die Fähigkeit, Zellen zu infizieren, von ihrem bisherigen Reservoir auf andere Gattungen überzugehen, sich auszubreiten? Um diese spannenden Fragen zu klären, haben Wissenschaftler etwa das Grippevirus rekonstruiert, der 1918 die sogenannte Spanische Grippe auslöste, oder die ausgestorbenen humanpathogenen Pocken.

2011 gelang es einem Team in den Niederlanden, die Vogelgrippe so zu verändern, dass sie über die Luft übertragen werden konnte (übrigens auch finanziell von einem EU-Forschungsprogramm gefördert). Dazu benutzten sie Frettchen, dem Versuchstier der Wahl für menschliche Influenza. Wenn Menschen vom Wildtyp der aviären Influenza infiziert werden, sterben sie in etwa 60 Prozent der Fälle.

Die wissenschaftliche Frage, wie Erreger neue Fähigkeiten erwerben, wird gelegentlich als gain of function (GOF) bezeichnet. Wegen der Kritik aus der Wissenschaft und einer nervösen Öffentlichkeit ist der Begriff - ohnehin ziemlich schwammig - aus der Mode geraten. Aber die entsprechenden Versuche gehen weiter. Die Zahl von Hochsicherheitslaboren weltweit ist so groß wie nie zuvor. Ergibt es Sinn, hochgefährliche Erreger zu züchten und aufzubewahren? Wie groß ist die Gefahr, dass sie aus den Laboren entkommen?

Für Pannen dieser Art gibt es Beispiele. Im Fall von Sars-CoV-1 sind sechs Fälle dokumentiert, in denen das Virus aus Laboren in die Umwelt gelangte. Auch die Epidemie durch Influenza A-H1N1 im Jahr 1977 ("Russische Grippe") ist wahrscheinlich auf einen Laborunfall zurückzuführen.

Marc Lipsitch, ein Epidemiologe der Universität Harvard und Experte für Biosicherheit, hat (auf einer kleinen und unsicheren Datenbasis) errechnet, dass in den USA alle 500 "Laborjahre" bei der zweithöchsten Sicherheitsstufe drei mindestens eine unbeabsichtigte Infektion stattfindet. Das klingt erst einmal nicht viel. Blöderweise bedeutet dieses Restrisiko, sollte sich die Infektion dann weltweit ausbreiten, unter Umständen massenhaft Todesopfer, möglicherweise Millionen.

Diese Informationen, die ich mir nach und nach, fast widerwillig zusammensuche, rücken die Laborunfall-These in den Bereich des Möglichen. Plausibel scheint sie mir aber erst, als ich noch etwas anderes erfahre: Einige meiner Gewährsleute aus der Wissenschaft, die diese Möglichkeit kategorisch ausgeschlossen haben, haben ein Interesse daran, die Sache unter den Teppich zu kehren.

Nach Berichten über schockierende Verstöße gegen die Sicherheitsbestimmungen in US-amerikanischen Laboren - verwechselte und vergessene Proben von Milzbrand und Influenza - beschloss die Regierung unter Barack Obama im Jahr 2014, die finanzielle Förderung von GOF-Experimenten mit Influenza, MERS und Sars vorerst einzustellen.

Daraufhin verlagerten die Wissenschaftler einen Teil der Arbeit ins Ausland, namentlich nach China, namentlich in das WIV. Experimente mit Fledermaus-Coronaviren wurden von der amerikanischen Gesundheitsbehörde finanziert, mit dem Zwischenschritt über eine NGO namens Ecohealth Alliance, die eine Schlüsselrolle in der Zoonosen-Forschung spielt und mir deshalb schon häufiger begegnet ist. Ihr Präsident ist Peter Daszak - eben jener Wissenschaftler, der seit Beginn der Pandemie vehement die Laborunfall-These als unsinnig und verwerflich geißelt.

Die hartnäckige Wühlarbeit von Journalisten hat zutage gefördert, dass Daszak den offenen Brief in Lancet von Februar 2020 gegen die "Verschwörungstheorien" organisierte. Er kooperierte und publizierte gemeinsam mit Wissenschaftlern des WIV. Dennoch gehörte er zu der WHO-Kommission, die Anfang 2021 den Ausbruch untersuchen sollte - obwohl Daszaks Reputation und wissenschaftliche Karriere wahrscheinlich erledigt wäre, sollte sich die Laborunfallthese erhärten. Kristian Andersen wiederum - der Autor des Beitrags in Nature Medicine vom März 2020, an dem sich die Berichterstattung orientierte - ging zunächst selbst davon aus, dass das Virus synthetisch hergestellt wurde, bevor er diese Möglichkeit entschieden ausschloss.

"Da ist etwas faul!", denke ich. Und so verbringe ich den Samstag und Sonntag auf dem Sofa liegend, unterbrochen von kurzen Abstechern in die Küche und ins Bad. Ich suche und lese so lange, bis ich ausreichend Belege für meine ursprüngliche Überzeugung gefunden habe: Die kognitive Dissonanz wird bereinigt. Im Internet geht das, dennoch bleibt ein ungutes Gefühl zurück.

Montags ist dann der vorherige Zustand wieder erreicht - die Laborunfall-These ist höchstwahrscheinlich falsch! - aber mein Vertrauen in die biologische Fachwelt hat gelitten. Ich berichte davon, weil meine Erfahrung als Exempel taugt und auf ein politisches Problem verweist.

Verloren zwischen Propaganda, Twitter-Rudel und Nanny-Journalismus

Je länger ich das Internet durchsuche, umso häufiger fällt mir auf, dass Daten und Namen sich unterscheiden. Wie bei der Replikation eines Virus nimmt die Zahl der Mutationen der Fakten mit der Zeit zu, durch Abschreiben, Ergänzen und Weglassen. Dabei unterscheiden sich etablierte und alternative Medien kaum.

Überhaupt ähneln sich beide Seiten in dieser Kontroverse mehr, als ihnen lieb sein dürfte. Sie reklamieren die Rationalität für sich, die sogenannte Wissenschaftlichkeit, Skepsis und Methode, Quantifizierung. Aber sie berichten nur, was zur jeweiligen Ausgangshypothese passt und argumentieren tendenziös. "Seht, ich habe Ockhams Rasiermesser!", schreiben die einen. "Nein, ich!", antworten die anderen. "Das ist doch nur eine Klobürste."

Während ein Twitter-Rudel unter dem Hashtag DRASTIC eifrig und ziemlich wahllos angebliche Indizien für einen Laborunfall zusammenträgt, betreibt die Mainstream-Presse einen "Nanny-Journalismus": in einfacher Sprache, begütigend und beruhigend, aber sachlich immer wieder falsch.

Journalisten und Wissenschaftler filtern Informationen aus, die ihnen geeignet scheinen, die Masse auf dumme Gedanken zu bringen. Das penetrante Mantra der Verschwörungstheoretiker "Wem nützt es?" - letztlich das einzige Wahrheitskriterium, das sie kennen - wird zum Maßstab der Berichterstattung. Das überzeugt mich nicht mehr, nachdem ich schon einmal aufs Glatteis geführt wurde.

Oft steht Behauptung gegen Behauptung. Mussten drei Mitarbeiter des WIV im November 2019 ins Krankenhaus wegen "SARS-ähnlicher Symptome", wie die CIA berichtet, aber Mitarbeiter des WIV bestreiten? Gab es vor dem Ausbruch in Wuhan Fälle von Covid-19 in Europa? Wann und warum wurde eine Datenbank mit Virensequenzen des WIV gelöscht? Während aus den USA immer neue Verdächtigungen und Vertuschungsvorwürfe kommen, streut China alternative Theorien, etwa das Virus sei über tiefgekühlte Lebensmittel oder Besucher aus dem Ausland eingeschleppt worden (beides unwahrscheinlich).

Schreibe die gesicherte Information auf ein Blatt Papier. Dann setze ein Fragezeichen hinter jede von ihnen: Stimmt das wirklich? Nachrichtendienste beurteilen angeblich zweifelhafte Informationen, indem sie jeden einzelnen Fakt nach dem Aufwand bewerten, den seine Fälschung erzeugt hätte. Je größer der Fälschungsaufwand, umso wahrscheinlich stimmt es. Diese paranoide Logik wird nun der kritischen Weltöffentlichkeit aufgedrängt, weil China und die Vereinigten Staaten sich in einer Propagandaschlacht befinden, und ihre Möglichkeiten der Fälschung und Desinformation gewaltig sind.

Entscheidende Fragen kann ich nicht beantworten, nicht einmal beurteilen. Deswegen bin ich auf die Expertise von Menschen angewiesen, deren Beweggründe mir verdächtig sind. Dies betrifft insbesondere die molekularbiologischen Eigenschaften. Wie viele Menschen auf der Welt kennen sich wirklich aus mit der reversen Genetik von Viren? Wie viele von ihnen betreiben selbst GOF-Forschung - was bedeutet, dass sie öffentlich die Gefahren ihres eigenen Forschungsansatzes beurteilen sollen?

Laien können Expertise und Fachwissen nicht erkennen, sonst wären sie keine. Deswegen sind sie angewiesen auf die akademische Selbstkontrolle und die Erkennungszeichen wissenschaftlicher Autorität: Professorentitel, Mitgliedschaften, Ehrungen. Wem diese Autorität zukommt, wurde schon in den Covid-19-Debatten zum wichtigen diskursiven Schlachtfeld: Handelt es sich um einen "richtigen Virologen" oder ist er etwa "fachfremd"? Hat er überhaupt seinen Doktor gemacht? Aber es zeigt sich: auch Nobelpreisträger und Autoren von Standwerken wie John Ioannidis oder Sucharit Bakhdi können falsch liegen.

Ohne inhaltliche Auseinandersetzung bleibt nur die Mehrheitsmeinung und der allgemeine wissenschaftliche Konsens, die bewährte Hierarchie und der intellektuelle Konformismus. Das sind schlechte Ratgeber. Oder aber, auf der Gegenseite, der Verweis auf die vermuteten Interessen eines Diskutanten - ebenfalls wenig hilfreich.

Die Politisierung und Instrumentalisierung macht es mühsam, zu den entscheidenden Fragen vorzudringen: Kann eine Panne in einem Hochsicherheitslabor eine Pandemie auslösen - und was fangen wir an mit dieser Erkenntnis? Viele Vertreter der Laborunfall-These bringen dafür erstaunlich wenig Interesse auf. Zoonosen und GOF scheinen ihnen unproblematisch zu sein, solange sie nicht von den Chinesen kommen.

Immerhin gelingt es mir nach und nach, die Laborunfall-These einigermaßen einzuordnen. Die angeblichen Ungereimtheiten der "offiziellen Version", auf die etwa der Unternehmer Steven Quay und der Journalist Nicholas Wade verweisen, sind in Wirklichkeit keine.

Die Bindung des Stachelproteins an den ACE2-Rezeptor menschlicher Zellen und die Furin-Spaltstelle interpretieren sie als Zeichen dafür, dass das Virus aus dem Labor stammt. Diese Eigenschaften können in Wirklichkeit evolutionär entstanden sein. Eine Fülle von Berichten belegt, dass mit SARS-verwandte Coronaviren von Fledermäusen auf andere Tiere überspringen und von dort aus zu Menschen gelangen können.

Hinzu kommt: Keiner der dokumentierten frühen SARS-CoV-2-Fälle steht mit dem WIV in Verbindung (wenn wir von unbelegten Behauptungen eines amerikanischen Nachrichtendienstes absehen). Im Gegensatz dazu hatten viele der ersten Patienten Verbindungen zu den Märkten in Wuhan. Als Verbreitungsort haben sie eine wichtige Rolle gespielt, auch wenn dort möglicherweise nicht der ursprüngliche Ausbruch stattfand. Dass eine Epidemie in einer Metropole und nicht auf dem Land ausbricht, ist nicht ungewöhnlich.

Mit den Methoden der reversen Genetik ließe sich möglicherweise SARS-CoV-2 erzeugen, aber dann hätte es sich um einen tragischen Glückstreffer gehandelt. Die scheinbar plausible Laborunfall-These hat ziemlich unwahrscheinliche Voraussetzungen: Ein nirgendwo dokumentiertes Virus - das oft ins Spiel gebrachte Fledermaus-Coronavirus RaTG13 scheidet als Vorlage ("Backbone") aus -, monate- oder sogar jahrelang bearbeitet, mit Methoden, die in der GOF-Forschung ungewöhnlich sind, unbemerkt oder im Geheimen bearbeitet in einer Forschungseinrichtung mit internationalen Kontakten und Gastwissenschaftlern - wirklich?

Für die Laborunfall-These spricht so wenig wie für Pekings Lieblingstheorie "Kühlkette". Plausibel wirkt sie, weil sie die Interessenkonflikte derjenigen thematisiert, die sich in der Debatte exponiert haben. Aber für sich genommen beweisen Interessen nichts. Peter Daszaks Ecohealth Alliance akquiriert Forschungsgelder und verteilt sie weiter. Das Geld kommt von staatlichen Stellen (auch von militärischen Stellen, was in den USA allerdings nicht unüblich ist). Sie dirigiert Forschungsprojekte, für die sich manchmal auch die Pharmaindustrie interessiert.

In der Geschichte der Laborunfall-Theoretiker spielen Wissenschaftler wie Daszak die Rolle der Strippenzieher, deren Manöver es zu entlarven gilt. Aber die massenhafte "investigative Arbeit" führt in die Irre, wenn der größere Zusammenhang fehlt. Peter Daszaks zweifellos großer Einfluss erklärt nicht den Korpsgeist des virologischen Establishment in dieser Debatte.

Die Wissenschaftler wollten nicht über Biosicherheit sprechen und der antichinesischen Propaganda in die Hände spielen. Sie haben kollegiale und freundschaftliche Beziehungen zu ihren chinesischen Kollegen. Vor allem aber teilen sie mit ihnen gemeinsame wissenschaftliche Ansätze und ein nobles Ziel: Pandemien zu verhindern. Bleibt die Frage, ob GOF dazu taugt.

Wissenschaft ist zu ernst, um sie den Forschern zu überlassen

Prinzipiell lässt sich die Laborunfall-These nicht ausschließen, solange die Vorläufer und die Zwischenwirte von SARS-CoV-2 nicht rekonstruiert worden sind. Ich suche nach der richtigen Haltung, einem vernünftigen Umgang mit der Ungewissheit. Ich rufe Freunde an, aber sie verstehen mich nicht. Letztlich sei es doch gleichgültig, ob das Virus evolutionär oder synthetisch entstanden sei, sagen sie, "höchstens von journalistischem Interesse". Sie weichen aus auf die Metaebene: Dass Zoonosen gesellschaftliche und ökologische Ursachen haben, stehe fest, so oder so.

Das überzeugt mich nicht. Covid-19 übertrifft die zahlreichen Ausbrüche seit der Vogelgrippe Ende der 1990er-Jahre. Die meisten Experten gehen davon aus, dass Zoonosen häufiger werden. Allerdings ist auch die Überwachung und Forschung intensiver geworden.

Fest steht, dass die zoonostische Gefahr verbunden ist mit der ökologischen Krise, weil gefährliche Kontakte zwischen Menschen und Wirtstieren häufiger werden.

Wie die Menschheit dieses Problem unter Kontrolle bekommt, ist nicht nebensächlich. Seit der Jahrtausendwende haben die Staaten ihre Zoonosen-Forschung ausgeweitet (inklusive der Experimente mit reverser Genetik). Pandemien wurden zu einer Frage der nationalen Sicherheit, was mit der menschlichen Gesundheit bekanntlich nur mittelbar zu tun hat.

Ironischerweise wurden eben deshalb weltweit immer mehr Labore der Sicherheitsstufen 3 und 4 in Betrieb genommen und mehr Versuche mit "potenziell pandemischen Erregern" durchgeführt. So wollte man "Pandemien verhüten", übrigens eine Formulierung, die die Ecohealth Alliance immer wieder benutze. Sollte die Laborunfall-These zutreffen, wäre dies eine Blamage für die einschlägige wissenschaftliche Gemeinde: die vermeintliche Prävention hätte eine Katastrophe ausgelöst. Diese Wissenschaftler hätten ein Problem, das sie verdienen.

Begründet wird "GOF mit potenziell pandemischen Pathogenen" damit, dass sich mit den gewonnenen Erkenntnissen vorhersagen ließe, welche Virenstämme eine Bedrohung darstellen. Dann könnten diese Stämme überwacht werden und beispielsweise infizierte Nutztiere vor einem Spillover gekeult werden. Früher hieß es auch, im Fall einer Epidemie ließen sich leichter Impfstoffe herstellen und wertvolle Zeit gewinnen. Mittlerweile geht die Impfstoffentwicklung durch die mRNA- und Vektor-Verfahren so schnell, dass dieses Argument kaum mehr überzeugen kann.

Das eigentliche Problem bei der Pandemie-Vorhersage ist die enorme Zahl möglicherweise riskanter Viren und Bakterien und möglicherweise riskanter Kontakte. Die Evolution der Krankheitserreger ist bisher kaum verstanden. Genomsequenzen sind für den Phänotyp nur bedingt aussagekräftig – Biologen nennen dieses Phänomen Epistasis –, entscheidend sind Umwelteinflüsse, die im Labor nicht nachgestellt werden können.

"Viren in der Natur sind vielen, teilweise widerstreitenden Formen des Selektionsdrucks ausgesetzt und anderen Einflüssen" erklärt Marc Lipsitch am Beispiel der Influenza. "Sie können eine andere Entwicklung der Gensequenz-Änderungen auslösen als die, die im Labor stattfinden. Außerdem hat ein verschwindend kleiner Anteil der natürlich existierenden Viren den Genotyp, der den Ausgangspunkt der Experimente bildet."

Gibt es Alternativen?

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Forschung bisher keine aussagekräftigen Risikofaktoren ermittelt hat, auch weil die Zahl der Pandemien bisher glücklicherweise gering ist. GOF liefert möglicherweise wichtige Erkenntnisse in der Grundlagenforschung, aber hatte bisher keine praktischen Konsequenzen.

"Wir haben gezeigt, dass ein solcher Virus entstehen kann und eine ernste Bedrohung darstellt", sagte 2012 einer der Forscher, die Vogelgrippe-Viren in die Lage versetzt hatten, sich über die Luft zu verbreiten. Das Ergebnis erschöpft sich regelmäßig in dieser dünnen Erkenntnis, dass ein bestimmter Erreger gefährlich werden könnte.

In einem Interview von 2019 sagte Peter Daszak:

Nach sechs, sieben Jahren (der Fledermaus-Forschung) haben wir mehr als 100 SARS-verwandte Coronaviren gefunden, sehr nahe bei SARS.

Die Ecohealth Alliance förderte auch Untersuchungen der Umwelteinflüsse, die Zoonosen begünstigen. Ihre Form der Pandemie-Prävention bestand aber vor allem darin, möglichst große Viren-Sammlungen anzulegen und ihre Gefährlichkeit mit GOF zu überprüfen. Der Molekularbiologe Richard Ebright vergleicht das damit, "mit einem brennenden Feuerzeug nach einem Gasaustritt zu suchen". Das mag übertrieben sein, aber die Frage bleibt, ob es sich gelohnt hat.

Im NDR-Podcast auf die Debatte über GOF angesprochen, sprach Christian Drosten sich gegen strengere Regeln aus. Die pauschale Kritik käme von "Wissenschaftlern, die nicht in der Virologie oder nicht im Kerngebiet dieser Virusforschung stecken … essenzielle Fragen der Infektionsbiologie, das sind die großen Fragen unserer Zeit. Da muss man diese Experimente machen." Über mehr Vorsichtsmaßnahmen könne man reden, sagte Christian Drosten sinngemäß, aber dies in der Community:

Wenn man mit Nicht-Fachleuten spricht, die einfach emotionale Meinungen wiedergeben, die sich vielleicht auch wichtigmachen wollen … dann kommt man in eine eigentlich abwegige Diskussion, die auch nicht weiterhilft. Die zwar Aufmerksamkeit generiert, aber diese Aufmerksamkeit ist nicht produktiv.

So sehen es wohl die meisten Virologen. Sie wollen nicht, dass die Debatte über die Laborunfall-These dazu führt, dass die Forschung stärker reglementiert wird. Ein pauschales Verbot von GOF wäre tatsächlich wenig sinnvoll und ohnehin kaum durchführbar. Die Schwierigkeiten fangen bereits bei der Definition an. Seit Jahren streiten die Experten, wie "außergewöhnlich gefährliche GOF-Experimente" oder "bedenkliche Dual use-Forschung" eigentlich einzugrenzen wäre. Nicht einmal Kritiker wie Marc Lipsitch oder die Cambridge Working Group fordern ein Verbot, Sie wollen, dass Gefahren und Nutzen systematisch geprüft werden. Aber sollen wir die Entscheidung darüber wirklich allein den Forschenden und ihren Finanziers überlassen?

Nötig wäre ein internationales Übereinkommen, das diese Risikoforschung transparent macht - dazu zählt auch die defensive Biowaffenforschung - und die Einhaltung kontrolliert. Nötig wäre aber auch eine öffentliche Debatte über die Ausrichtung der Zoonosen-Forschung. Denn die sogenannte Pandemie-Prävention verhütet in Wirklichkeit nichts.

Zoonosen sind ein gesellschaftlich-ökologisches Problem, das wir auch ohne Next Generation Sequencing, reverse Genetik und Superimpfungen lösen können. Einfach indem wir manches sein lassen: die Abholzung der letzten Habitate von Wildtieren, die Intensivierung von Landwirtschaft und Viehzucht, Emissionen und Stoffeinträge in die Umwelt, die das Artensterben antreiben.

Wir können es auch proaktiv angehen, indem wir eine gute Ernährung und Krankenversorgung für Menschen sicherstellen, die mit Wild- und Nutztieren in Kontakt kommen (und Erkrankungen mit unklaren Symptomen untersuchen, um Spillover sofort zu entdecken). Weitere virologische und bakteriologische Erkenntnisse mögen nützlich sein, notwendig sind sie nicht. Es mangelt nicht an Wissen, sondern an der Umsetzung.

Die Laborunfall-These hat mir das Wochenende verdorben, aber das hat mir immerhin gezeigt, wo die Grenzen meiner Medienkompetenz liegen. Weil wir nicht alle zu Universalgelehrten werden können, brauchen wir eine Wissenschaft, die möglichst unabhängig von staatlichen und kommerziellen Interessen agiert. Die glaubwürdig ist, weil nachvollziehbar nützlich. Sich "der Wissenschaft" anzuvertrauen, kann jedenfalls nicht die Lösung sein, wenn es hart auf hart kommt. Aufklärung ist ein kollektiver Prozess, zu dem alle individuell beitragen müssen. Im gegenwärtigen Nebel der Desinformation und in einem Klima der Feindbestimmung ist das ein mühseliges und zeitraubendes Geschäft.

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