Fußball-EM 2020: Das war das Festival des Nationalismus

Alles so schon schwarz-rot-gold hier: ein deutscher Fanblock. Bild: Max Pixel, CC0

Nur ein Spiel? Nein, denn wieder haben sich nicht einfach ein paar Fußballmannschaften gemessen, sondern Repräsentanten von Nationen. So gehören Sport und Politik zusammen. Ein Kommentar

"Die Hymne zu singen, das ist wunderschön", meint Bundestrainer Joachim Löw. "Wenn man ein Turnier gewinnen will, braucht man unglaublich viel Enthusiasmus. Man muss ein Feuer schüren."

Singen "unsere" Jungs auch wirklich alle mit bei der Nationalhymne? Schmettern nicht die Italiener und Franzosen viel inbrünstiger die Verse ihrer "National Anthems"? Und ist es da nicht verwunderlich, wenn "die" "uns" überlegen und erfolgreicher sind? An mangelnder Technik, fehlendem Talent, falscher Taktik oder einfach zu wenig Spielglück kann es allein nicht liegen.

Denn "wir" sind schließlich eines der erfolgreichsten Länder in Europa (eigentlich sogar das erfolgreichste). Deshalb verkörpern "unsere" Kicker auch "unseren" Anspruch, bei einer Europameisterschaft ganz vorn mit dabei zu sein. Wer also schon vor Beginn des Spiels nicht mit Herzblut Vertreter dieses Anspruchs ist, kann es ja wohl während der Begegnung auch nicht mehr werden!

Es geht um nichts weniger, als "Ehre" für die Nation einzulegen. Das gilt nicht nur für die 26 Kicker-Millionäre und den dazugehörigen Trainerstab der Deutschen. Jedes teilnehmende Team bei einem internationalen Turnier wie der Fußball-Europameisterschaft steht für das sie entsendende Land, vertritt dieser Nation zugeschriebene oder selbst behauptete herausragende Eigenschaften:

Kämpferische, aber leider meist unterlegene Schweizer (was sich dieses Mal änderte); disziplinierte, nie aufgebende Deutsche ("Panzer"!); stolze, elegante Franzosen; eigentlich zu Größerem fähige Portugiesen (waren vor einigen Jahrhunderten Weltkolonialmacht, den Verlust beweinen sie bis heute); beinharte Italiener, aber manchmal launisch und unattraktiv; filigrane Spanier, die sich an ihrer Kunst berauschen und das Wesentliche vergessen (i.e. Tore schießen); und natürlich die vielen Außenseiter-Nationen von Tschechien bis Nord-Mazedonien, die zwischen mannschaftlicher Geschlossenheit und rührender Einsatzfreude ihre ganz spezifischen National-Charaktere in die Waagschale werfen.

Ein logisches Unding wird todernst genommen

Wie aber können ein paar Berufsfußballer exemplarisch für die maßgeblichen Eigenschaften eines ganzen Volks stehen? Sind die einstimmig vom Volk gewählt worden oder haben ein Charakter-Casting gewonnen? Überhaupt: Wie könnten denn die herausragenden Merkmale "des Deutschen, Italieners, Franzosen usw." ermittelt werden?

Man merkt, so kann das nicht funktionieren. Und doch wird mit schöner Regelmäßigkeit vom Auftritt der Nationalmannschaft auf die sie repräsentierende Nation geschlossen. Im Guten, wenn sie gewinnen oder zumindest eine "bella figura" abgeben. Dann dürfen die Bürger mit dem gleichen Personalausweis stolz auf sie sein - und auf sich selbst, dass sie zu einer solchen tollen Truppe gehören, irgendwie. Oder im Schlechten, dann ergießt sich über die "Versager" ein Kübel von Beschimpfungen.

Die Feinsinnigeren unter den Enttäuschten kleiden ihre Wut in der Suche nach den Schuldigen und schon lange zuvor getroffene falsche Entscheidungen – die sie natürlich schon lange zuvor kritisiert hatten. Ein logisches Unding wird also todernst genommen.

Dann kann es sich auch nicht einfach nur um ein Spiel handeln, in dem 22 Männer (und Frauen selbstverständlich auch!) hinter einem Ball herrennen, um ihn in ein Tor zu schießen. Offenbar geht es um wesentlich mehr.

Wie 1918 - als "wir" die Deutschen besiegten

"Comme en 18" (Wie 18) überschrieb etwa die französische Sportzeitung L'Équipe ihren Bericht zum Auftaktsieg gegen die deutsche Auswahl. Der Bezug zur Jahreszahl war absichtlich doppelt: 2018 schied die DFB-Elf bekanntlich bei der Weltmeisterschaft bereits in der Vorrunde aus, und Frankreich holte den Titel. "Frankreich lässt wie vor drei Jahren dem Gegner nur Krümel und die Augen zum Weinen." (zit. nach Süddeutsche Zeitung, 17. Juni 2021)

Gemeint war aber auch eine andere deutsche Niederlage: 1918 verlor das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg, einer der Hauptgegner und Sieger war Frankreich. Die Tageszeitung Le Figaro formulierte entsprechend martialisch: "Die Bleus (so heißen die Stellvertreter für das selbstverständlich herausragende französische Volk - B.H.) haben keinen Hunger, sie haben Reißzähne (...) bereit, alles zu verschlingen.

In einer Partie hoher Intensität marschieren sie über das deutsche Team hinweg." (zit. nach SZ, ebenda) Wer denkt da nicht an eine Front, die von blauen Helden überrannt wird?

Der deutsche Botschafter in Paris verstand es sofort und twitterte eilfertig: "Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!" Zur Mahnung an vergangen geglaubte Zeiten der Erzfeindschaft heftete er die Titelseite von L'Équipe an. Denn seit Längerem bilden schließlich Berlin und Paris das Machtzentrum in der Europäischen Union, durch den Austritt der Briten sogar umso mehr. Da sollten solche Misstöne unterbleiben.