"Nicht Verschwörungstheorie, sondern Verschwörungstatsachen"

"JFK Revisited: Through the Looking Glass". Bild: © Camelot Productions

Wer ermordete John F. Kennedy? Auch Oliver Stone liefert bei den Filmfestspielen von Cannes keine Antwort, aber viele Fakten. Medien reagieren arrogant

What kind of peace do I mean? What kind of peace do we seek? ... Not the peace of the grave or the security of the slave.

John F. Kennedy, 10.6.1963

The Truth is out there.

The X-Files

Gibt es eigentlich noch irgendjemanden, der glaubt, dass John F. Kennedy 1963 tatsächlich durch Lee Harvey Oswald ermordet wurde?

Oliver Stone glaubt es jedenfalls nicht. Wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was Stone in seinem Dokumentarfilm "JFK Revisited: Through the Looking Glass" präsentiert, dann ist klar: Oswald war es nicht. Und wer andere Möglichkeiten sondiert, hängt nicht irgendwelchen kruden "Verschwörungstheorien" an, sondern präsentiert einem US-System, das an Aufklärung nicht interessiert scheint, Tatsachen. Oder wie Stone sagt: "It's not conspriracy theory, its conspiracy fact." ("Es ist keine Verschwörungstheorie, sondern eine Verschwörungstatsache")

Mit "JFK Revisited: Through the Looking Glass", der in dieser Woche bei den Filmfestspielen von Cannes in einer zweistündigen "Kurzfassung" Premiere feierte, dessen vierstündige Langversion bald in den USA Premiere haben soll, kehrt der wohl politischste lebende Hollywood-Regisseur nach 30 Jahren zum Thema seines global erfolgreichsten Spielfilms, "JFK" zurück, und zu dem Moment, an dem Amerika aus seiner Sicht seine Unschuld verlor.

Er breitet dokumentarisches Material aus, Interviews und Filmdokumente, klassifizierte Akten, Zeugenaussagen. Seine Leitfrage: "What really happened that day... And why?" ("Was ist an diesem Tag wirklich passiert... Und warum?")

Magische Kugeln und journalistische Ethik

Den Gegner stark zu machen, ist Oliver Stones Sache nicht. Den Gegner stark zu machen - das wird in solchen Fällen gern von jenen anempfohlen, die um "ausgewogene" Berichterstattung fürchten, oder um die (nirgendwo genau festgelegten) Normen der "journalistischen Ethik" und des "Handwerks", als deren selbsternannte Wächter sie auftreten. Oliver Stone zeigt, wie es auch gehen kann und warum das manchmal richtig ist: Der Gegner ist nämlich schon stark.

Und bloß weil dieser Regisseur nun einmal alles das zusammenfasst, ordnet und bündelt, was gegen die herrschende Theorie spricht, der 35. US-Präsident sei durch einen Einzeltäter mit einer "magic bullet" getötet worden, bedeutet dies nicht, dass diese herrschende Theorie nicht weiterhin durch Tausende von Büchern und Medienbeiträgen weiterhin gestützt würde.

"JFK Revisited: Through the Looking Glass". Bild: © Camelot Productions

An Gegenöffentlichkeit interessiert

Oliver Stone ist an Gegenöffentlichkeit interessiert. Er will den "abweichenden Meinungen" ein Gehör und ein Forum verschaffen, erst recht aber will er der Weltöffentlichkeit klarmachen, dass es bei diesem Fall diverse ungeklärte Fragen und himmelschreiende Widersprüche und Inkonsistenzen gibt.

Und "Gegenöffentlichkeit" und "abweichende Meinung" bedeutet auch keineswegs, dass Stone und jene Wissenschaftler und Ermittler, auf die er sich beruft, nicht sehr wohl viele Belege haben. Oder dass die sogenannten Fakten gerade in diesem Fall felsenfest stehen. Vielmehr sind sie in viel größerem Maß interpretationsabhängig und interpretierbar, als es die offiziellen Ermittlungsberichte bis heute glauben machen.

Dass nicht wenige von ihnen von den Verschleierungsbehörden erst "fabriziert" wurden, ist Bestandteil von Oliver Stones Theorien, die er mit ernst zu nehmenden Fachleuten teilt und für die er nun in seinem Film viele Zeugen anführt und interviewt.

Stone macht aber noch mehr: Er belegt, wie nach der Tat vieles unter den Teppich gekehrt und selektiv ermittelt wurde, wie "Wahrheit" alle paar Jahre neu erfunden wird. Und er belegt die Salamitaktik der US-Behörden, die immer wieder nur dann Dinge zugaben und ihre Versionen der Ereignisse veränderten, wenn kein Widerspruch mehr möglich war.

Falsche Kugeln, falsche Zeugen und Kennedys Hirn - Dilettantismus oder Verschwörung?

Was sind die wichtigsten Punkte?

Erstens die Frage der Schüsse. Drei Patronenhülsen hat man von Oswalds angeblicher Schussposition gefunden. Aber wie viele Schüsse wurden wirklich abgegeben? Und aus welcher Richtung?

Ausgiebig beschreibt Stone die Behauptung einer "Magic Bullet", also einer Kugel, die, sollte Oswald wirklich allein gehandelt und es nur drei Schüsse gegeben haben, auf wundersame Weise sieben verschiedene Wunden verursacht haben muss, als sie zunächst den Präsidenten traf, dann ihren Lauf mehrfach veränderte und schließlich den vor Kennedy sitzenden texanischen Gouverneur John Connally an Brust und Knie verletzt hat.

Wurde diese Kugel bisher überhaupt gefunden? Ist das angebliche, nahezu unbeschädigte Geschoss, das erst Stunden später auf einer Krankenhausbahre entdeckt wurde, tatsächlich dasjenige, das den Präsidenten getroffen hat?

Zweitens gibt es viele Unklarheiten bei den Zeugenaussagen. So steht auch der angebliche Fluchtweg von Lee Harvey Oswald im Widerspruch zu anderen Ermittlungen.

Drittens die Behandlung des Präsidenten, die Autopsie und der Zustand des Leichnams: Mehrfach widerriefen die in Dallas behandelnden Ärzte ihre Aussagen, und äußerten sich angeblich später, man habe sie gezwungen, ihre Aussagen zu verändern.

Warum wurde die Autopsie nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, in Dallas durchgeführt, sondern in Bethesda, Washington? Warum wurden für die Autopsie - obwohl vorhanden - keine Experten hinzugezogen, sondern nur Ärzte, die keine Erfahrung mit Schusswunden hatten? Dilettantismus oder Verschwörung?

Oliver Stone stützt letzteres. Er glaubt, dass die Post-Mortem-Untersuchung absichtlich relativen Amateuren anvertraut wurde, dass deren handschriftliche Notizen absichtlich verschwanden und dass die daraus resultierenden Fotos gefälscht wurden. Doktor Cyril Wecht, der forensische Pathologe, der zuerst das makabre Geheimnis von JFK's fehlendem Gehirn aufdeckte, gibt im Film eine sehr eindeutige Expertenaussage.

Warum gab es zwei Leichenfotografen? Warum wurde die Leiche auf bestimmten Fotos manipuliert? Warum wurde ein falsches Gehirn fotografiert? Was passierte mit Kennedys Gehirn?

Das Versagen der Medien

Viertens die genaue Identität von Lee Harvey Oswald. War er ein Informant des CIA? Des FBI? Beider? War er ein Pro-Cuba-Aktivist?

Es gibt zahlreiche Vermutungen hierzu, in jedem Fall ist deutlich, dass CIA und FBI die Spuren ihrer Kontakte und ihrer Ermittlungen zu Oswald verwischen wollten. Stone ist sicher: Kein US-Gericht würde Oswald auf Basis dieser Fakten verurteilen.

Fünftens die sonstige Rolle der Geheimdienste vor, während und nach dem Attentat. Sechstens das Versagen der politischen Aufklärung. Die vielen Fehler der Warren-Kommission werden von Stone genüsslich breitgetreten. Dazu gehört, dass die angebliche Austrittswunde in Kennedys Kehlkopf mehrfach in den Akten "verschoben" wurde, unter anderem vom späteren Präsidenten Gerald Ford, der ein Kommissionsmitglied war.

Angeblich erzählte Ford als Präsident später seinem französischen Kollegen Giscard d'Estaing, der Mord sei nicht die Tat eines Einzeltäters gewesen: "It was a set up, but we don't know by whom" ("Es war ein abgekartetes Spiel, aber wir wissen nicht, von wem"), wird Ford in Stones Film zitiert.

Siebtens und nicht zuletzt das Versagen der Medien. Besonders CBS und New York Times hätten sich so Stone niemals auf die Möglichkeit eines anderen Tatablaufs eingelassen. Sie hätten sich nie detailliert mit den mehrere Dutzend Bände umfassenden Ermittlungsakten beschäftigt. Dagegen, so Stone "stützen sie bis heute den Warren-Report", obwohl dieser längst widerlegt sei.

Man kann in dieser kursorischen Auflistung ein Beispiel für Mainstream-Medien sehen, die ihre Aufgabe nicht erfüllen, und die die politische Agenda, die von Institutionen und Regierungen vorgegeben werden, nicht infrage stellen.

"JFK Revisited: Through the Looking Glass". Bild: © Camelot Productions

Diese Medienkritik hat Stone in Interviews zum Film präzisiert und zugleich zu einer Kritik an Political Correctness und Cancel-Culture erweitert: "Censorship has taken over. This fear of offending, of saying something wrong is really against the American Dream." ("Die Zensur hat die Oberhand gewonnen. Diese Angst, jemanden zu beleidigen oder etwas Falsches zu sagen, geht wirklich gegen den amerikanischen Traum.")

Wer diese Kritik an Medien für übertrieben hält, der sollte sich ansehen, wie die genannten Medien mit Stones Film umgehen: Spöttisch, arrogant, von oben herab versucht man den Regisseur der Lächerlichkeit preiszugeben.