Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?

Eine Diskussion mit dem Schriftsteller Thomas Brussig

"Mehr Diktatur wagen" hatte der Schriftsteller Thomas Brussig ("Sonnenallee") Anfang des Jahres als Parole zur Corona-Bekämpfung ausgegeben. Bei den "Römerberg Gesprächen" in Frankfurt hat er seine Überlegungen kürzlich vertieft.

Darüber hat Timo Rieg mit ihm im Podcast "?Macht:Los!" diskutiert. Die nachfolgende Fassung ist die gekürzte und von beiden im weiteren Austausch leicht bearbeitete Version dieses Streitgesprächs. Der dafür grundlegende Essay von Brussig ("Mehr Diktatur wagen") ist am Ende zum Nachlesen dokumentiert.

Timo Rieg: Herr Brussig, wie sind Sie bisher durch die Pandemie gekommen?

Thomas Brussig: Gemessen an den Befürchtungen gut. Denn ich bin dem Virus aus dem Weg gegangen bzw. das Virus mir. Ich bin jetzt das zweite Mal geimpft, alles, was ich am Anfang befürchtet habe, ist nicht eingetreten. Natürlich hat es sehr genervt und geschlaucht, dass es so lange gedauert hat.

Timo Rieg: Mental sind Sie aber gut durchgekommen? Einige Künstler sagen ja, es hätte sich bei ihnen gar nicht so viel geändert, sie arbeiten eh alleine im Atelier, andere Menschen brauchen sie nicht im direkten Kontakt...

"Extreme Verzweiflung über den Corona-Journalismus"

Thomas Brussig: Beim eigentlichen Schreiben ist der Unterschied nicht so groß. Aber die Kontaktbeschränkungen, die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die betreffen ja alle gleichermaßen. Und nun hatte ich im Frühjahr letzten Jahres ein neues Buch am Start, und alle Termine in dem Zusammenhang sind mir weggebrochen.

Aber das ging vielen so, das war eben der Preis der Pandemie. Ich bin sehr froh, dass sich das jetzt dem Ende nähert. Heute war der erste Tag, an dem mein Sohn wieder von 8 bis 16 Uhr zur Schule gegangen ist. Sonst hatte er immer nur verkürzten Unterricht, zweieinhalb Stunden.

Timo Rieg: Meine Arbeit hatte sich auch nur in Teilen verändert, aber ich hatte noch nie im Leben so lange anhaltend schlechte Laune wie nun seit März 2020. Und das liegt nicht an der Politik, die ist halt, wie sie immer ist, sondern es liegt an meiner extremen Verzweiflung über den Corona-Journalismus.

Und die Kritik an den journalistischen Unzulänglichkeiten und brachialen Fehlern interessieren die Branche einfach überhaupt nicht, was den Frust nicht gerade mindert. (Siehe TP-Serie "Medienkritik zum Corona-Journalismus")

Thomas Brussig: Darüber kann man natürlich auch lange diskutieren. Mir ist es auch irgendwann schwergefallen, noch Politiker zu hören, weil ich dachte: Die sagen jetzt halt das, was sie immer sagen oder sagen müssen, aber es hilft auch nicht. Eine Justizministerin will ich nicht zu Corona hören. Das hat schlechte Laune gemacht, stimmt schon.

"Es ging um eine Erfahrung und die war neu"

Timo Rieg: Das könnte man aber auch zu den Fachministern sagen. Ohne immer wieder darauf zu kommen, was jemand von seiner Ausbildung her ist: Ist es nicht verrückt, wozu Spahn alles gefragt wurde, als ob er irgendeine Ahnung von Mikrobiologie, Epidemiologie oder ähnlichem hätte? Oder wie die halbe Nation am 18. März 2020 an den Lippen der Bundeskanzlerin hing. Was kann denn Merkel Kompetentes zu Corona sagen?

Natürlich, was jetzt politisch läuft, aber dazu braucht es die Fernsehansprache nicht, das erfahren wir schon ständig aus den Nachrichten. Wie die Pandemie gerade auf der Welt aussieht und was es an medizinischen Erkenntnissen gibt, weiß Frau Merkel genauso laienhaft wie jeder andere Mensch bzw. jeder, der ähnliche Quellen nutzt. Welche Weisheit soll von ihr kommen?

Zoom-Screenshot Thomas Brussig (links) und Timo Rieg

Thomas Brussig: So grob würde ich das nicht sehen. Es ging um eine Erfahrung, die wir alle gleichermaßen gemacht haben, und die völlig neu war. Dass sich da mal die Regierungschefin meldet, etwas zur aktuellen Situation in Worte fasst - es ist ernst, es wird uns eine ganze Weile begleiten, und schon mal Danke an diejenigen, die das Gesundheitswesen und die öffentliche Versorgung aufrecht erhalten - das war schon richtig.

Timo Rieg: Aber dahinter steckt doch immer auch die Erwartung, die Politik wird das Problem gelöst bekommen. Und wie in jeder Bande soll bei brenzligen Situationen der Anführer entscheiden.

Thomas Brussig: So als große Problemlöserin habe ich die Kanzlerin damals nicht erlebt, mehr mit der Aussage: wir stehen jetzt vor großen Herausforderungen. Natürlich sagt sie den Satz "wir schaffen das" kein zweites Mal, aber ich habe ihn in dieser Ansprache trotzdem herausgehört.

"Sie haben für solche Ausnahmesituationen eine Art "Corona-Diktatur" gefordert"

Timo Rieg: Mit dem politischen Pandemie-Management, das dann kam, sind Sie ja nicht zufrieden, deshalb diskutieren wir heute miteinander, Sie haben für solche Ausnahmesituationen eine Art "Corona-Diktatur" gefordert, damit mal zügig getan werden kann, was getan werden muss. Bevor wir darauf genauer eingehen: Mit der Demokratie bei uns sind Sie aber abgesehen von diesem Spezialfall Corona zufrieden, so habe ich Sie jedenfalls bei den Römerberg Gesprächen verstanden?

Thomas Brussig: Natürlich finde ich Demokratie etwas ganz Wichtiges, und natürlich läuft nicht alles optimal. Was ich im Weiteren dazu sagen werde, wird sicherlich meiner ostdeutschen Herkunft angelastet, als Produkt meiner mangelnden Demokratiesozialisation und so weiter ausgelegt werden.

Timo Rieg: Von mir bestimmt nicht.

Thomas Brussig: Gut. Meine Sozialisation zum Demokraten fand 1989/90 statt. Ich kam aus unfreien und undemokratischen Verhältnissen und habe mich sehr nach Demokratie gesehnt. In den Monaten, in denen offen war, wie es weitergeht, habe ich darüber nachgedacht, wie eine zeitgenössische, moderne Demokratie aussehen müsste.

Und da war mir schon klar, dass es ein System westdeutschen Zuschnitts nicht ist: Alle vier, fünf Jahre mal ein Kreuzchen machen und das soll's gewesen sein? Und was sagen diese Wahlen schon aus, wenn Helmut Kohl mit einer Brille Wahlen gewinnt.

Timo Rieg: Die Anekdote haben Sie in Ihrem "Bekennerschreiben" erzählt...

Thomas Brussig: Helmut Kohl trug jahrelang eine Brille, weil er kurzsichtig war. In einem gewissen Alter setzte bei ihm aber die nicht seltene Altersweitsichtigkeit ein, die Brille wurde überflüssig. Aber nachdem er ein paar Mal ohne Brille aufgetreten war, haben ihm seine Berater gesagt, mit Brille wirke er intellektueller, sympathischer, und das ließ sich in Zustimmungsprozenten messen.

Also trug er weiter eine Brille, dann halt mit Fensterglas. Wenn aber von so etwas Wahlentscheidungen abhängig sind, kann man doch nicht mehr für Wahlen sein. So war ich dann immer auf der Suche, und vor vier Jahren hatte ich dann das Erweckungserlebnis.

Ein glühender Demokrat, der Wahlen verachtet

Timo Rieg: David Van Reyboucks Buch "Gegen Wahlen". Das hat erstaunlich viele Menschen begeistert, obwohl die grundlegende Idee darin uralt ist und selbst in Deutschland seit fünfzig Jahren praktiziert wird. Aber soweit hat kaum ein euphorisierter Rezensent recherchiert.

Thomas Brussig: Ein glühender Demokrat, der Wahlen verachtet, das fand ich schon sehr interessant. Und so ist mein Verhältnis zu unserer Demokratie eben: Ich finde sie gut, aber ich spüre, dass es was Besseres geben könnte. Und das Bessere ist der Feind des Guten.

Timo Rieg: Was soll denn besser werden? Soll irgendetwas grundlegend anders werden oder wollen Sie nur ein bisschen am Verfahren schrauben?

Thomas Brussig: Wir erleben eine sinkende Wahlbeteiligung, wir erleben auch eine demagogische Verwundbarkeit des Systems. Das Schlimmste an Trump ist ja schlicht, dass er gewählt wurde. Wie kannst du nur für Demokratie sein, wenn du die Verwundbarkeit in so krasser Form erlebst? Nun ist es ja nochmal gutgegangen mit Trump, aber auch seine Abwahl war keine Sternstunde der Demokratie, anderthalb Tage lang habe ich ihn nochmal eine zweite Amtszeit im Weißen Haus gesehen.

Timo Rieg: Wenn Trump aber doch gewählt worden wäre, sagen wir mit klarer Mehrheit, dann hätte sich die Demokratie diskreditiert, meinen Sie?

Thomas Brussig: Wir erleben immer wieder, dass die Demokratie zu suboptimalen Ergebnissen führt. Der Brexit ist auch so eine Geschichte. Dass es zu dieser Entscheidung kam, war schon merkwürdig, aber wie das dann durchgezogen wurde, da habe ich nur noch mit dem Kopf geschüttelt.

Timo Rieg: Die Diskussion um den Brexit und vor allem die journalistische Berichterstattung dazu in Deutschland ist für mich ein Paradebeispiel elitärer Demokratieverachtung. Es ging nie darum, was die Menschen im Vereinigten Königreich entschieden haben, sondern es ging ausschließlich darum, dass uns - bzw. genauer den Ton-Angebenden bei uns - diese Entscheidung nicht gepasst hat, dass wir aus unserer Warte den Brexit doof finden, es also letztlich besser gewesen wäre, wenn die Schlauen aus Deutschland entschieden hätten statt der depperten oder wenigstens undankbaren Briten.

Thomas Brussig: Ich fand die Entscheidung der Briten nicht richtig, und die Hälfte der Briten fand sie auch nicht richtig. Aber nach der Abstimmung hat es in der ganzen Politik niemanden mehr gegeben der gesagt hätte, diese Entscheidung ist falsch. Stattdessen hat Londons gesamte politische Klasse gesagt, wir machen jetzt den Brexit, weil es Volkes Wille ist. Dabei war es nur der Wille des halben Volkes.

Timo Rieg: Ihre Kritik basiert darauf, dass Sie erkennen können, was richtig und was falsch ist. Sie können erkennen, wer der richtige Präsident für die USA ist, welche Entscheidung zur EU in UK richtig wäre und auch, welches Management in der Coronakrise angezeigt war.

Thomas Brussig: Dass Trump ein peinlicher Präsident war, sehe ich nicht als Einziger so. Aber er ist ja auch ein Zerstörer, der den Staat zum Zwecke seines autoritären Stils umbaut.