Gentrifizierung in Berlin: Die Macht der Milliardäre

Protest vor Kisch & Co. im Dezember 2020. Bild: Buchhandlung Kisch und Co

Explodierende Mieten, fehlendes Gewerbemietrecht: Der Fall einer Kiezbuchhandlung zeigt das Dilemma der Kleinen im Kampf gegen die Big Player

Mehr als 90 kleine Geschäfte gibt es in diesem Teil des Berliner Stadtteils Kreuzberg: einen Lebensmittelladen, ein Wollgeschäft, eine Töpferei, Boutiquen, Kneipen und Restaurants.

Über 250 Gewerberäume insgesamt sind es im Kiez. Die Immobilien-Spekulation zerstört hier gerade das über Jahrzehnte halbwegs austarierte Dasein und treibt Gewerbemieter vor sich her.

Beispiel Kisch & Co.: Unterstützt von drei Mitarbeitern verkauft Thorsten Willenbrock seit 1997 Bücher in der Oranienstraße auf 140 Quadratmetern Ladenfläche. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren kämpft er um den Erhalt seines Geschäfts.

Erst versuchte die Immobilien-Holding von Nikolas Berggruen den Buchhändler loszuwerden. Zuletzt probierte es der Immobilienfonds einer skandinavischen Milliardärsfamilie.

Immer häufiger machen sich Immobilienfonds als Käufer in Kreuzberg zu schaffen. Im Fall der Buchhandlung Kisch & Co. hat ein Daten-Spezialist die Besitzverhältnisse recherchiert, die Treuhänder in Liechtenstein ausgemacht und deren Geschäftsbeziehungen nachverfolgt.

Anonymes Kapital auf der Suche nach Wertsteigerung. So wurde das Haus, in dem sich der Buchladen befindet, verkauft: Mehr als 35 Millionen Euro konnte der Milliardär Berggruen für die Immobilie einstreichen. Mit sattem Gewinn. 2008 hatte er das Haus mit der Nummer 25 für weniger als acht Millionen Euro erworben.

2017 stand die erste Kündigung für Willenbrock an. Auch einer Bäckerei und einem Kiosk drohte das Aus. Fast dreitausend Demonstranten brachte das damals auf die Straße. Am Ende gaben die Vermieter nach. Thorsten Willenbrock erhält von der Berggruen-Holding einen Drei-Jahres-Vertrag bis Ende Mai 2020, dann lief der Gewerbemietvertrag der Buchhandlung aus.

Ein unmoralisches Angebot

Im Laufe des Frühjahrs 2020 bekommt der Buchhändler Post. Die neuen Hauseigentümer bieten einen Sieben-Monats-Vertrag an, zu reduzierten Konditionen - und interessanten Vorschlägen, wie das gehen soll: "Wir sollten positiv über die Fondsgesellschaft berichten", verrät Willenbrock im SWR-Interview, "vor allem auf Youtube und auch den Medien gegenüber".

"Gentrifizierung in Kreuzberg. Buchhändler sollte Vermieter auf Youtube loben", titelte die Berliner Zeitung:

Das ist das Schlimmste, was es gibt (...), dass man keinen Ansprechpartner hat, dass man mit niemandem reden kann, von Angesicht zu Angesicht, das ist auch das, was das eigentlich ausmacht, das ist das kalte Kapital.

Buchhändler Thorsten Willenbrock

Der neue Hausbesitzer, der luxemburgische Immobilienkonzern Victoria Immo Properties V Sàrl, strengt einen Prozess an, um gegen den Widerborstigen einen Räumungstitel zu erstreiten. Etliche tausend Menschen unterzeichnen derweil eine Petition bei change.org mit dem vielsagenden Titel "Die Kiezbuchhandlung gegen die Milliardäre".

Prozess im Hochsicherheitssaal

Das Landgericht verlegt den Räumungsprozess im Frühjahr 2021 in einen Hochsicherheitsgerichtssaal. "Absurd" nennt dies der Anwalt Willenbrocks, Benjamin Hersch.

Laut Hersch ist dieser Saal für "Hochsicherheitsverfahren" wie bei Terroristenprozessen ausgestattet, etwa mit getrennten Einlassschleusen für Gericht und Publikum. So wird das Anliegen kriminalisiert.

Hersch will eine Reform des Gewerbemietrechts, denn:

Bislang gibt es ja im Mietrecht für Gewerbemieter:innen keinen wesentlichen Schutz.

Benjamin Hersch, RA

Der Fall Kisch & Co. zeigt beispielhaft das Dilemma kleiner Kiezgewerbe. Durch das Manko im Gewerbemietrecht und die explodierenden Mieten werden Gewerbetreibende von einem Immobilieninvestor zum nächsten getrieben, bangen um die eigene Existenz.

Am Dienstag nun war die Zwangsräumung angesetzt, das sollte seitens der Buchhandlung ursprünglich noch mal als Event inszeniert werden. Die für den Morgen angekündigte Zwangsräumung durch die Polizei in der Oranienstraße fand jedoch nicht statt – abgeblasen, weil die Buchhandlung kurzfristig andere Räumlichkeiten in der Nähe gefunden hatte.

Der alte Laden wurde ohne großes Aufhebens dem Gerichtsvollzieher übergeben. Nur eine kleine Gruppe von Demonstranten protestierte.

In allerletzter Minute, so der Betreiber, "konnten wir (…) einen Mietvertrag mit einem nicht weniger problematischen Immobilieninvestor sieben Häuser weiter in der Oranienstraße 32 abschließen".

Der seit fast 25 Jahren im Kiez etablierte Buchladen wird ab dem 1. September also einige Häuser weiter zu finden sein – deutlich geschrumpft. Das Gute an der Nachricht hat freilich auch wieder einen Haken: Der neue Vermieter ist niemand anderes als die Deutsche Wohnen.

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