Pandemie gegen Realität

Staat und Bürger nutzen unterschiedliche Strategien zur Bewältigung der Krise. Beide haben einen wahren Kern und führen teilweise in die Sackgasse (Teil 2 und Schluss)

In meiner Sicht finden sich in den "offiziellen" Verlautbarungen berechtigte Anliegen, aber auch ethische Fehlorientierungen und Realitätsverkennungen.

"Querdenken" weist auf negative Folgen hin, die die staatlichen Freiheitseinschränkungen zur Eindämmung der Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus und der Covid-19-Infektionen mit sich gebracht haben. Die Schäden sind offensichtlich, doch die Fixierung auf sie lässt anderes außer Acht.

Die kompromisslose Forderung nach Aufhebung aller Maßnahmen zur Eindämmung des Sars-CoV-2-Virus und der Covid-19-Erkrankung verkennt die Gefährdung der Bevölkerung. Ich will mich hier nicht auf eine Diskussion einlassen, wie hoch die Gefährdung von einzelnen oder Gruppen ist, ob der statistische Anteil der ernsthaft Erkrankten und Verstorbenen gering oder beachtlich ist, ob Menschen mit oder an Corona versterben.

Fakt ist, dass eine große Zahl an Menschen – die Zahlen müssen nicht wiederholt werden – weltweit und in unserem Land ernsthaft erkrankt und im Zusammenhang mit Corona gestorben sind. Hinter den unpersönlichen Statistiken stehen konkrete, individuelle Menschen und Angehörige mit ihren Leiden, ganz abgesehen von der Belastung von Ärzten und Pflegepersonal, die die Versorgung der Kranken und Sterbenden mit sich bringt.

Das sind weder bei uns noch anderwo "Quantités négliables". Wer dies leugnet oder verharmlost, verdrängt Realitäten.

Es ist klar, das Virus stört unsere gewohnten Lebensabläufe, es rüttelt am System. Da das Virus neu war und die gewohnten Mittel der Abwehr versagten, ließ es uns wehrlos und ausgeliefert erscheinen. Eine solche Situation aktualisiert frühkindliche Gefühle der Hilflosigkeit und damit verbundene Ängste.

Kinder, die eine vermeintliche oder reale Bedrohungssituation nicht selbst oder mit der Hilfe ihrer Schutzpersonen auflösen können, greifen zu unrealistischen Bewältigungstrategien. Sie wehren die Bedrohung durch magische Beschwörungen ab, überspielen sie, deuten sie um, leugnen sie ab und verdrängen sie aus ihrem Bewusstsein. In anderen Fällen erstarren sie gefühlsmäßig oder reagieren aggressiv.

Als Erwachsene neigen wir in Situationen der Bedrohung oder Überforderung dazu, solche Bewältigungsstragien zu reaktivieren. Eine Weile mag uns das helfen, aber besteht die Bedrohungslage weiter und verharren wir bei diesen Abwehrstrategien, dann hindern wir uns daran, geeignete und realistische Bewältigungsmöglichkeiten selbst zu finden oder uns dazu verhelfen zu lassen. In der Psychotherapie gilt ein solches Verhalten in leichteren Fällen als "neurotisch", in stärkerer Ausprägung als "psychotisch".

"Realitätsleugnung" liegt auch vor, wenn staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als "nutzlos" abgewertet werden. Jeder kritische Beobachter wird zugeben, dass das deutsche Pandemie-Management nur begrenzt effektiv war.

Dass konsequent durchgeführte, zeitweilige Freiheitseinschränkungen in der Bekämpfung der Pandemie erfolgreich sein können, zeigt schon allein der Blick auf Länder wie Australien und Neuseeland.

Unbestritten sei, dass es dabei für Menschen und Wirtschaft nachteilige Wirkungen gibt. Aber die genannten Länder haben durch ihre Maßnahmen erreicht, dass es nur ein Minimum an schweren Erkrankungen und Todesfällen gab und das zivile Leben mit wenig Einschränkungen fortgeführt werden konnte – mit Ausnahme der zeitweiligen und regionalen Lockdownphasen. Political will and the public – der politische Wille und das Mitgehen der Öffentlichkeit haben diesen und anderen Ländern geholfen, Infektionen besser in Schach zu halten als wir in Deutschland.

Bei aller Anerkennung des subjektiven Anteils dessen, was wir als "Realität" ansehen, halte ich daran fest, dass es außer uns liegende, durch Erfahrung oder im wissenschaftlichen Diskurs evidente und feststellbare "Tatsachen" gibt.

Wenn alles "subjektiv" ist, dann gibt es keine Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Täuschung, Realität und Wahn. Bei dem analytischen Blick, den ich hier anwende, ist diese Unterscheidung notwendig.

Und endlich ist nicht zu vergessen, daß die analytische Beziehung auf Wahrheitsliebe, d. h. auf Anerkennung der Realität gegründet ist und jeden Schein und Trug ausschließt.

Sigmund Freud, Die endliche und die unendliche Analyse. In: GW XVI,94

Der Weg aus neurotischen oder psychotischen Zuständen wird gefunden, wenn sich Betroffene für die Realitäten ihrer inneren und äußeren Welt öffnen und sie anerkennen.

Ich behaupte nicht, dass es bei "Querdenken" – zumindest bei wissenschaftlich orientierten Vertretern – keine Auseinandersetzung mit den "Realitäten" des Sars-Cov-2-Virus und seinen Auswirkungen gibt. Was ich aber beobachte ist, dass man sich permanent auf wissenschaftliche Außenseiter beruft und selektiv Untersuchungsergebnisse zur Unterstützung eigener Annahmen verwendet.

Mit dem Beharren auf eigene, alternative Recherchen schließt man sich vom allgemeinen Diskurs aus. Fragmentierte Erkenntnisse werden zur ganzen Wahrheit erhoben. Die eigene Abgrenzung und der nicht produktiv angenommene Widerspruch führen zu einem "Erwählungsbewusstsein".