Die Loslösung des Bewusstseins von der Materie

Stanisław Lem, 1966. Bild: Wojciech Zemek / CC-BY-SA-3.0

Postbiologische Perspektiven mit Stanisław Lem. Teil 1

Der polnische Science-Fiction-Autor und Technikphilosoph Stanisław Lem wäre 2021 hundert Jahre alt geworden. Älteren Telepolis-Leser:innen wird er noch als regelmäßiger Kolumnist dieses Magazins bekannt sein.

Zu seinem Jubiläum erschienen in verschiedenen Medien wohlwollende Kommentare, was von einer verdienten Anerkennung zeugt, so etwa bei heise online. Insgesamt bleibt die deutschsprachige Rezeption seiner Schriften jedoch konservativ und desinteressiert an ihren posthumanen oder postbiologischen Perspektiven.1

Wir lassen es an dieser Stelle mal dahingestellt sein, ob man Lem dafür rühmen sollte, ein Vordenker der virtuellen Realität oder der Nanotechnologie zu sein; Unseres Erachtens geschieht das bei einer bloß futurologischen Betrachtung.

Seine vornehmliche Leistung scheint uns woanders zu liegen. Das Meta-Thema bei Lem war es, seinen Leser:innen zu zeigen – direkt oder indirekt –, was sie selbst als Produkte einer langen Evolutionsgeschichte in verschiedenen Beziehungen, auf verschiedenen Skalen darstellen – aber auf eine derart provozierende und extreme Weise, die einem allgemeinen Verständnis eher entgegensteht.

Experimentelle Philosophie

Lem entzog sich einer schnellen Zuschreibung, er stand im Schnittpunkt von Philosophie, Physik, Informatik, Biologie und Literatur. Sein Ansatz lässt sich als "experimentelle Philosophie" umschreiben, wobei er diese mehr in spielerisch-literarischer Weise umgesetzt hat.2 In einigen seiner Texte ist ihm eine einzigartige Synthese aus verschiedenen Wissensgebieten gelungen.

Lem war ein Philosoph, der sich auch der Science-Fiction-Literatur bedient hat. Dabei profitierte er – als Eklektizist – von den Erkenntnisfortschritten in vielen Wissenschaften wie Kosmologie, Biologie oder Kybernetik/Informatik.

Nun kann man kritisieren, dass Lem nicht immer auf der Höhe der Zeit war und in seinem theoretischen Hauptwerk Summa technologiae von 1964 etwa den damals sich herausbildenden Gegenstand der künstlichen Intelligenz nur unter dem kybernetisch geprägten Gesichtspunkt der Intelligenzverstärkung thematisiert hat. In dem gleichen Text zeigt er aber ein ungewöhnliches interdisziplinäres Talent.

Er hat zudem eine besondere Position eingenommen, die ansonsten selten unter Wissenschaftlern und Intellektuellen erprobt wird: Er hat einen Blick "von oben" auf verschiedene Prozesse in Natur und Gesellschaft geworfen (siehe auch: Panorama der Technoevolution).

Wir wollen uns in diesem Essay nicht mit seinem umfassenden Spektrum an Themen befassen, das er philosophisch/literarisch bearbeitet hat, sondern nur einige Aspekte anreißen, die gemeinhin in der Rezeption vernachlässigt oder gar übersehen werden.

Auf seine Motivation angesprochen, hat er als "Wunsch" geäußert, "möglichst viele Illusionen, denen sich die Menschheit hingibt, auszumerzen".3 Er durchbricht bei seinen Versuchen, diesem Wunsch nachzukommen, verschiedene Selbstbespiegelungen der menschlichen Identität, die sich als effiziente Illusion-"Maschinen" und zugleich als Sackgassen der Sinn-Orientierung erwiesen haben. Dabei reiht er sich ein in die Tradition von Desillusionierungen verschiedener anthropozentrischer Sichtweisen seit der Neuzeit, potenziert sie sogar noch.

Als erste wäre die Desillusionierung durch Kopernikus und andere zu nennen, den Planeten Erde (und damit den Menschen) aus dem Mittelpunkt des Weltalls vertrieben zu haben.

Mit dem Namen Darwin wird die Vertreibung aus der Stellung als "Krone" einer Schöpfungsgeschichte umschrieben. Die dritte Desillusionierung durch Freud – die Menschen sind nicht die "Beherrscher" ihrer Psychen – ist bei Lem eher sekundär, da er vermutlich dieser Dimension eine untergeordnete Funktion bei der Reproduktion der Gattung oder bei der zwischenmenschlichen Kommunikation zuweist (wobei sein Roman Solaris auch davon handelt, dass der intelligente außerirdische Ozean in der Lage ist, das Unbewusste seiner Besucher zu extrahieren).

Wichtiger für ihn wird die vierte, sich heute anbahnende Desillusionierung: auch eine Maschine, tote Materie kann Denkoperationen wie das Rechnen durchführen und das mit einer Geschwindigkeit, die das menschliche Maß bei weitem übersteigt. Der Mensch hat kein Monopol mehr auf bestimmte Denkoperationen, tendenziell auch nicht mehr auf die höhere Kognition.

Man kann diese Enttäuschung mit dem Namen Turing4 bezeichnen. Lem nimmt diese Desillusionierungen auf und gibt ihnen jeweils eine weitere Wendung. Und er fügt eine neue Enttäuschung hinzu, die sich auf die Kulturgeschichte bezieht.

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