Kultur als Erfindung aus dem Nichts

Stanisław Lem, 1966. Bild: Wojciech Zemek / CC-BY-SA-3.0

Postbiologische Perspektiven mit Stanisław Lem. Teil 2 und Schluss

Wie im ersten Teil dieses Essays schon erwähnt, kann man mit dem Namen Stanislaw Lem eine neue Enttäuschung belegen. Er hat den Menschen gezeigt, dass ihre Kulturen nur "leere" Formen sind, die aus dem Nichts kommen, die völlig erfunden und künstlich sind. Die Menschheit hat mit anderen Worten viele sich mit der Zeit überlappende, mischende Kultur-"Blasen" aufgebaut, die ihre Mitglieder psychisch und materiell getragen haben.

Diese Blasen sind willkürlich zusammengesetzt, auch wenn sich in ihnen klimatische und andere regionale materielle Bedingungen niederschlagen. Ihre Mitglieder wachsen in sie hinein, übernehmen die Sinn-Vorgaben und halten die Existenz ihrer Kultur für selbstverständlich, vorgegeben.

Gemeinhin wird die historische Ausdifferenzierung der kulturellen Blase zur Kenntnis genommen. Lem hat gezeigt, dass die Menschheit zu Beginn vor einem kulturellen "Nichts" stand.

Das langsam einsetzende selbstreflexive Bewusstseins der Spezies Homo sapiens sah sich einer "Leere" gegenüber, die es ausfüllen musste, um die ersten Formen der Kultur aufbauen zu können. Lem ist sogar der Meinung, dass die ersten Menschen ihre Kultur notwendig verkennen mussten, um überhaupt in der Lage zu sein, die Grundlagen der Zivilisation zu legen.

Die Kulturen sind Veranstaltungen, um die vielfältig vorhandenen Zufälligkeiten der Umwelt auszuschließen, ihnen Sinn zu geben. Dieser Sinn ist immer künstlich. So entstanden mythische und religiöse Bewusstseinsformen, in denen höhere Mächte die Geschicke der Menschen zu lenken schienen.

Die Kultur ist eine Überlebensstrategie, die besser sein muss als Strategien, die nichtkulturelle Wesen haben, also Tiere. In der Kulturgeschichte der Menschheit bestand immer die Suche nach Sinn-Referenz. Es gibt aber keinen Sinn außerhalb der Kultur.

Es gibt keine grundlegende Referenzebene, die Menschheit baut ihren Sinn von Beginn an auf, projiziert gegebenenfalls. Die Schlussfolgerung für den heutigen Stand der Zivilisation ist – lemologisch gesprochen –, dass die Menschheit sich solche Prozesse bewusst wird, mit der Vergeblichkeit der Referenzgewissheit umgehen lernt und eine Rationalität entwickelt, die über ihre Kulturbedingungen hinausgeht.

Dabei kommen ihr die Fortschritte der Informationstechnologien entgegen. So wie der biologische Code automatisch, bewusstlos die Biosphäre hervorgebracht hat, so kann der bewusste "Code" menschlicher Gedanken eine Technosphäre mit einem technologischen Code erzeugen.

Die Macht geht vom biologischen auf den technologischen Code über. Es geht jetzt darum, den eigenen immateriellen Code der Kultur zu reproduzieren und weiterzuentwickeln, nicht den genetischen weiterzugeben.

Der Bote übernimmt die Führung, indem er diesen Code produziert – in Form der Technik, des immateriellen Wissens, der Information. Aber diese Machtübergabe verläuft nicht ohne Probleme. Eine Kultur kann in Sackgassen geraten durch eine fehlgeleitete technische Entwicklung (siehe zum Beispiel Lems Warnung vor einer "Informationslawine").

Die irreführenden Spiegelungen des (selbstreflexiven) Bewusstseins

Lem ist ein Denker der Begrenzungen der menschlichen Verstandes- und Wahrnehmungsfähigkeit auf den verschiedenen Skalen. Eine Grenze der Fähigkeit des Verstehens ist durch den Erkenntnisapparat gegeben. Die Biologie des Gehirns mit ihren neuronalen Netzwerken begrenzt das Denken.

Das humanoide Bewusstsein ist gewissermaßen in selbigem "gefangen". Dieses Denken ist einerseits von materiellen Zumutungen befreit und kann sich in ein gedankliches Verhältnis zu seiner Umwelt setzen im Unterschied zu den Tieren, da es mit Symbolen operiert. Andererseits neigt es dazu, in "Selbstbespiegelungen" zu kreisen.1

Mit dem Bewusstseins-Thema stoßen wir in einen paradoxen Grenzbereich vor. Wie kann das Bewusstsein, das zugleich Medium und Produkt seiner Reflexion ist, sich spiegeln?

Bei Lem ist es eine fiktive künstliche Intelligenz namens Golem, in der das menschliche Denken reflektiert wird – nur eine andersartige Intelligenz kann letztendlich die Machart der menschlichen Reflexion dekonstruieren. Der Golem ist ein philosophisches Gedankenexperiment, das in diese Richtung weist (siehe auch: Ein Realismus der höheren Art).

Das Experiment bleibt – als Teil des Paradoxons – an die für Menschen verstehbare Sprache gebunden, in der sich das künstliche Bewusstsein seinem Publikum gegenüber äußert. Insofern ist der literarische Versuch selbst begrenzt.

Eine andere Perspektive des Ausbruchs oder der Durchdringung des eigenen Denkens liegt in der "zerebrotechnischen Selbstbehandlung". Lem abstrahiert von einer konkreten Diskussion technischer Details, die er nicht leisten kann oder muss; er verallgemeinert Prinzipien der Entwicklung.

Wir können in seinem Sinne zusammenfassen, dass die beginnende technische "Evolution" den biologischen Code transzendiert.

Gewissermaßen löst sich die kulturell erzeugte Botschaft dabei vom biologischen Träger; dieser wird nachrangig. Sie entledigt sich damit des materiellen Ballastes der Boten. Das biologische Erbe wird tendenziell überwunden.

Das selbstreflexive Bewusstsein, durch den dieser epochale Schritt möglich sein wird, ist selbst ein unvorhersehbares "Produkt" der Evolution gewesen. Wir können in diesem Essay nicht diskutieren, warum die Evolution das denkende Bewusstsein hervorgebracht hat (Lem nahm an, dass es von der Natur erfunden wurde, um die Funktion der Überwachung von Körperprozessen auszuführen).

Wie auch immer, das Bewusstsein wird zunehmend ein anders strukturiertes Produkt von technokulturellen Prozessen sein und sich von seiner körperlichen Basis, der materiellen Form des Homo sapiens ablösen.

Das durch die technologische Evolution auf neuer Basis materialisierte Bewusstsein tritt an die Stelle der Botschaft des biologischen Codes, die sich in Millionen Formen über Jahrmillionen auf der Erde realisiert hat und dessen vergehendes Primat Lem betont hat.

Die Informations-, Wissensaspekte werden dabei zunehmen, während die sinnlich-empirischen abnehmen, bzw. auf eine neue Ebene gebracht werden durch die technische Sensorik. Die Botschaft sucht sich in Zukunft ihren Träger. Und sie sucht sich Medien der Kommunikation, die nicht mehr an den menschlichen Körper und sein Gehirn gebunden sind.

Wir hatten diesbezüglich von einer "Lem'schen Wende"2 geschrieben. Mit dem Hinweis auf die kopernikanische Wende meinen wir einen lange vorbereiteten Perspektivenwechsel. Dieser ist gewissermaßen die "Über"-Desillusionierung des menschlichen Selbstverständnisses, bei der die verschiedenen Aspekte zusammenkommen.

Vorher ging die Reflexion aus vom Standpunkt und der Perspektive des menschlichen Körpers. Die Philosophie beschäftigte sich mit dem Bewusstsein dieses Körpers, wie er über Bewusstsein und über welche Möglichkeiten der Erkenntnis verfügt.

Lemologisch gedacht hat das Bewusstsein einen Körper und es hat auf diesem Planeten einen spezifischen Körper (der Computer Golem hat als künstliches Bewusstseinsprodukt eine andere Intelligenz-Struktur).

Die Distanz, die beim Menschen zwischen Bewusstsein und Materie herrschte, war für das Funktionieren des Bewusstseins konstitutiv. Die Menschen können immer nur in der Anschauung bleiben, während Maschinen einen anderen, einen direkteren Zugang zur Wirklichkeit haben. Mit den (intelligenten) Maschinen wird das Bewusstsein erstmals näher an die Materie rücken.

Informationserzeugung und Welt gehen bei ihnen enger zusammen. Menschen können immer nur die Symbole in ihrem Bewusstsein manipulieren, was ihnen eine spezielle Freiheit beschert hat, haben aber mit den Dingen nicht direkt zu tun.

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