Türkische Bomben- und Drohnenangriffe in Nordsyrien treffen Zivilbevölkerung

Die Region kommt auch Jahre nach militärischen Siegen über den IS nicht zur Ruhe. Foto: ANF

Am vergangenen Wochenende haben die Attacken aus der Türkei und den besetzten Zonen Nordsyriens einen neuen Höhepunkt erreicht

Die Bombardierungen und Drohnenangriffe aus der Türkei oder den türkisch besetzten Zonen in Nordsyrien haben am vergangenen Wochenende einen neuen Höhepunkt erreicht. Zwischen Kobanê und Tall Abyad (kurd.: Gire Spi) wurden wiederholt Wohngebiete mit Artillerie beschossen. Im Umland von Kobanê konzentrierten sich die Angriffe auf ländliche Gebiete östlich und südöstlich der Region, auch die dortige Zementfabrik war eines der Angriffsziele. Bis zum Sonntagabend wurden ein Toter und zwölf Verletzte gemeldet.

Eines der Opfer der Bombardierungen ist der vierjährige Abdo, der vor dem Haus mit seinem Spielzeugbagger spielte. Nach einer Beinamputation befindet er sich in einem kritischen Zustand. Sein Vater, Mistefa Hanifi, berichtete von dem Angriff im Dorf Qeremox: "Wir saßen vor dem Haus und Abdo spielte vor der Tür, als plötzlich Granaten einschlugen. Bei dem Angriff wurden zwei Kinder und vier Frauen aus unserer Familie verletzt."

Seine verletzte Frau und ihre Schwester wurden in ein Krankenhaus nach Rakka gebracht, seine Schwägerin nach Minbic. Weitere Familienmitglieder werden in Kobanê behandelt. Nachdem ein Foto des beinamputierten Jungen durch die sozialen Medien ging, wird im Internet unter dem Hashtag #Not_a_terrorist_I_need_my_leg darauf aufmerksam gemacht, wie der Nato-Staat Türkei in der Region gegen die Zivilbevölkerung vorgeht.

Ein Team der North Press Agency, das sich zufällig in der Nähe aufhielt, berichtete exklusiv mit einem Video über die Bombardierung eines Dorfes und die Verletzung eines weiteren Kindes sowie seiner Mutter.

Westlich von Tall Abyad wurden ebenfalls Artillerieangriffe gemeldet, die von der türkisch besetzten Stadt auf das dörfliche Umland abgefeuert wurden. Die Stadt liegt südöstlich von Kobanê und ist wie Ras al-Ain (kurd.: Serekaniye) seit Oktober 2019 unter türkisch-dschihadistischer Besatzung.

Weder der damalige US-Präsident Donald Trump und andere westliche Staatsoberhäupter noch Russlands Präsident Wladimir Putin intervenierten damals gegen die völkerrechtswidrige Besetzung durch den Nato-Staat Türkei und seine Hilfstruppen. 200.000 Menschen wurden aus den betroffenen Städten vertrieben. An ihrer Stelle wurden von der türkischen Regierung Islamisten mit deren Familien dort angesiedelt.

In der Shehba-Region, zwischen Afrin und Aleppo, wo tausende Geflüchtete aus Afrin in Camps leben, wurden am Wochenende die Dörfer Semoqa und Werdiye bombardiert. Es scheint, als wolle die Türkei ihre Besatzungszone in dieser Region ausweiten, was zu einer erneuten Flüchtlingswelle aus der Shehba-Region nach Nordostsyrien führen könnte.

Der Kampf um Kobanê ist noch nicht zu Ende

Kobanê liegt in Nordsyrien direkt an der Grenze zur Türkei und ist eine symbolträchtige Stadt für die Bevölkerung der Region. Aber auch weltweit wird mit diesem Ortsnamen der erste Sieg gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) im Januar 2015 verbunden. Es war die Zeit, in der Deutschlands Nato-Partner Türkei den IS noch mehr oder weniger offen unterstützte und der Bevölkerung von Kobanê notwendige Hilfe versagte.

Stattdessen durfte der IS seine verletzten Kämpfer in türkischen Krankenhäusern behandeln lassen. In der Schlacht um Kobanê vertrieben Kurdinnen und Kurden aus allen Siedlungsgebieten der verschiedenen Staaten gemeinsam Straßenzug um Straßenzug den IS aus dieser Stadt. Die Niederlage des IS in Kobanê war für die Dschihadistenmiliz der Anfang vom Ende, aber auch eine Niederlage für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der den IS lieber als Nachbarn gehabt hätte als die linken, demokratisch orientierten Kurdinnen und Kurden.

Dass die damals junge demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien auch Rückhalt in Teilen der arabischen, armenischen, christlichen und ezidischen Bevölkerung hatte und hat, wird bis heute von der türkischen Regierung sowie im Westen ignoriert. Für die türkische Regierung sind die Menschen in Nordsyrien – vom Neugeborenen bis zum Greis – "PKK-Terroristen", die es zu vernichten gilt.

Folglich hat Erdogan auch die sogenannten "Friedensverhandlungen mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK" aufgekündigt – die von türkischer Seite nie ernsthaft geführt worden waren. Aber das ist ein anderes Thema.

Nach dem Sieg über den IS in Kobanê, wo die USA am Ende die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ aus der Luft unterstützt hatten, war die Stadt ein Trümmerfeld. Tausende gefallene Kämpferinnen und Kämpfer von YPG und YPJ sowie tote Zivilisten waren zu beklagen. Trotzdem begannen die Bewohner sofort mit der Beseitigung der Trümmer, die YPG ging auf Minensuche.

Um Erdogan nicht zu erzürnen, gab es jedoch kaum internationale Hilfe beim Wiederaufbau der Stadt. Mit Spenden aus der Diaspora, von Nichtregierungsorganisationen und vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen weltweit ist es gelungen, die Stadt wieder aufzubauen.

Nur am Rande soll hier erwähnt werden, dass in Deutschland Kurdinnen und Kurden mit Verweis auf das PKK-Verbot der Terrorunterstützung angeklagt werden, weil sie unter anderem an Demonstrationen zur Unterstützung der Selbstverwaltung teilnahmen oder eben Spenden zum Wiederaufbau der vom IS zerstörten Städte oder für Infrastrukturprojekte sammelten. Die syrisch-kurdische Partei PYD wird wegen ihrer inhaltlichen Ausrichtung von türkischer Seite mit der PKK gleichgesetzt, ist aber in Deutschland nicht verboten.

Die internationale Solidarität mit den Menschen in den besetzten Gebieten ist Erdogan natürlich ein Dorn im Auge. Über die gleichgeschalteten Medien in der Türkei und in der Diaspora wird Stimmung gemacht und Fake-News werden verbreitet, um die Bemühungen der syrisch-kurdischen Selbstverwaltung zu diskreditieren.

Wobei die Selbstverwaltung – wie jede Regierung – natürlich auch Fehler macht. In zahllosen Konferenzen und Bürgerversammlungen wird versucht, Missständen wie Korruption oder Umweltverschmutzung entgegenzuwirken.

Unter Embargo-Bedingungen und umgeben von feindlich gesinnten Regierungen ist es aber fast unmöglich, die Millionen von Menschen zu versorgen, gefangene IS-Terroristen mit ihren Familien ausreichend zu bewachen und zu versorgen – und sich zugleich um den Ausbau der Infrastruktur zu kümmern.

Hilferufe an die internationale Gemeinschaft blieben bisher fast unerhört. Und die ständigen Angriffe aus der Türkei, die von westlichen Medien wie auch in der Türkei kaum wahrgenommen werden, erhöhen das Leid der Bevölkerung und sind Teil der Strategie, sie zu zermürben und gegen die Selbstverwaltung aufzubringen.

Die nordsyrische Armee SDF (Syrian Democratic Forces) hat die Angriffe der Türkei und ihrer verbündeten Dschihadisten in den besetzten Gebieten Nordsyriens im Jahr 2021 ausgewertet. Daraus ergibt sich ein Einblick in die enormen Sicherheitsprobleme, die die Selbstverwaltung zu stemmen hat.

Aus der konservativen Opposition kommen nur Vorwürfe, was alles nicht funktioniert, aber keine Vorschläge, wie man es besser machen könnte. Unter dem Regime von Baschar al-Assads Zentralregierung in Damaskus möchte allerdings auch die Opposition nicht leben.

Versuche der Selbstverwaltung, die konservative Opposition, die sich vor allem aus dem syrischen Ableger der nordirakischen KDP und einigen Türkei-nahen kurdischen Parteien zusammensetzt, konstruktiv einzubinden, gestalten sich zäh. Aber immerhin, es gibt einen Dialog.

Bilanz der türkischen Angriffe im Jahr 2021

Mindestens 89 Zivilistinnen und Zivilisten sind im vergangenen Jahr auf dem Gebiet der Selbstverwaltung und in angrenzenden Regionen bei Angriffen der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten getötet worden. 139 Zivilisten wurden im gleichen Zeitraum durch die Angriffe türkisch-islamistischer Besatzungstruppen verletzt.

Die internationale Nichtbeachtung und das laute Schweigen zu den andauernden Menschenrechtsverletzungen habe letztlich die Türkei ermutigt, ihre Angriffe zu verstärken, resümieren die SDF in ihrem Bericht. Ziel der Türkei sei es, im Grenzgebiet Familien aus den Überbleibseln der verschiedenen Terrorgruppen wie dem IS, Al-Qaida und anderen Dschihadistenmilizen anzusiedeln.

Dabei bediene sie sich einer bekannten Taktik: durch militärische Provokationen werden die eigenen Verbrechen durch erfundene oder vorgetäuschte Angriffe der SDF gerechtfertigt. Die Folge dieser Taktik sei die Flucht der angestammten Bevölkerung, die am meisten unter dem Terror der Türkei und ihrer Milizionäre leide. Stück für Stück würden so demografische Tatsachen geschaffen.

Der Terror gegen die Zivilbevölkerung ist gut belegt. "Es existieren zahlreiche Beweise für die Verletzung des humanitären Völkerrechts durch die Türkei und ihre Söldner", heißt es in dem Bericht.

Ankara werden darin Luft- und Bodenangriffe, gezielte Ermordungen, der Beschuss von bewohnten Städten und Dörfern, die Plünderung von öffentlichem und privatem Eigentum, Angriffe auf Friedhöfe, Gotteshäuser, Schulen und Dienstleistungseinrichtungen, Entführungen und gewaltsames "Verschwindenlassen" mit Erpressung der betroffenen Familien, und wahllose Tötungen vorgeworfen. Hinzu kommen die Durchsetzung der Politik der Türkisierung und des demografischen Wandels sowie Einschüchterung der Bevölkerung durch Beherbergung von IS-Führungsmitgliedern in der Besatzungszone.

Der Bericht bilanziert in einer Übersicht die Angriffe von Afrin im Nordwesten bis nach Derik im Nordosten:

  • 2021 gab es 47 Bodenoffensiven zur Ausweitung der Besatzungszone, 1300 Angriffe mit schweren Waffen, 7.000 Artillerie-, Panzer- und Mörsergranaten kamen zum Einsatz und 89 Drohnenangriffe.
  • Es gab 52 Scharfschützen-Angriffe auf Zivilisten, um sie daran zu hindern, ihre Bauernhöfe zu erreichen.
  • 58 Dörfer und drei Städte (Zirgan, Ain Issa und Tel Rifat) wurden angegriffen sowie die Siedlungsgebiete in Qamishlo, Kobanê, Til Temir und Gel Axa.
  • Mehr als 700 Zivilisten wurden 2021 in den Regionen Afrin, Ras al-Ain (kurd.: Serekaniye) und Tall Abyad (kurd.: Gire Spi) verschleppt.
  • 22 archäologische Stätten wurden zerstört und geplündert.

Die vorsätzliche Ermordung von Zivilpersonen sei eines der schwersten Verbrechen, mit denen die türkische Besatzung versucht habe, die Stabilität im Autonomiegebiet zu stören und Angst unter der Bevölkerung zu verbreiten und damit die aktive Beteiligung am Aufbau und Schutz der Gesellschaft zu verhindern, betonen die SDF.

Im Zuge des Kampfes gegen die Angriffe der Türkei und der Verfolgung von IS-Zellen sind laut dem Bericht im Jahr 2021 insgesamt 148 Kämpferinnen und Kämpfer der SDF ums Leben gekommen.

Der Bericht endet mit einem Appell an die internationalen Akteure, insbesondere Russland und die USA "ihren Verpflichtungen nachzukommen und unverzügliche Maßnahmen zur Beendigung der türkischen Verbrechen und der Besatzung zu ergreifen, damit die Vertriebenen in ihre Häuser zurückkehren können."

Vermutlich wird auch dieser Appell ungehört bleiben und die Angriffe der Türkei und ihrer dschihadistischen Söldner werden unvermindert weitergehen. Erdogan wird weiter auf die Destabilisierung der Region setzen. Dabei sind ihm alle Mittel recht.

Noch gehen die Menschen massenhaft auf die Straße und protestieren, aber es ist auch eine zunehmende Resignation in der Bevölkerung spürbar. Die Menschen sind des Krieges müde, sie wollen Frieden, Sicherheit und ausreichend Nahrungsmittel.

Der Westen hätte ausreichend Möglichkeiten, dafür zu sorgen: zum Beispiel Wiederaufbauhilfe in der Region der Selbstverwaltung leisten; die in den Lagern und Gefängnissen festgesetzten IS-Terroristen mit westlicher Staatsbürgerschaft zurückholen und vor hiesige Gerichte stellen; der Türkei durch Sanktionen Einhalt gebieten; von der Autonomieregion im Nordirak die Grenzöffnungen zum Gebiet der nordsyrischen Selbstverwaltung zu fordern, um notwendige Güter zum Wiederaufbau von Nordsyrien transportieren zu können – und schließlich die demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien endlich international anerkennen.

Letzteres ist längst überfällig, denn eines ist sicher: Es wird kein Zurück zu Assads Zeiten geben. Erstmalig wächst eine kleine Blume der Demokratie von unten und wird nicht von äußeren Mächten von oben verordnet. Diese gilt es zu pflegen und im Wachstum zu unterstützen.

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