Warum die Armutsdefinition den Blick auf die Realität verzerrt

Elend in der viertgrößten Industrienation: Ausnahme oder Normalzustand?

Deutschland kann einiges vorweisen: Neben Kinderarmut, Altersarmut, Bildungsarmut wird schon seit Längerem die Armut von Alleinerziehenden, Langzeitarbeitslosen oder Migranten thematisiert, auch die "neue soziale Frage" (Horst Seehofer, CSU) der Wohnungsarmut – und seit Neuestem ein weiterer Problemfall: die Energiearmut.

Und es stimmt ja: Die Preise fürs Lebensnotwendige steigen allgemein im Land, besonders die Energiepreise werden wohl für viele unbezahlbar oder sind es bereits. Dabei gilt Deutschland als ein vermögendes Land, was ja ebenfalls stimmt. Hier gibt es (fast) alles, was sich der Mensch nur denken kann.

Dennoch bleibt das Thema Armut auf der öffentlichen Agenda, nämlich als ein Verstoß gegen den Normalfall, als ein Zustand, den es in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland gar nicht geben dürfte. Ein Fall, der auch nichts mit der Marktwirtschaft zu tun hat ...

Jetzt gibt es ihn aber wieder in eklatanter Weise. Energiearmut, die Menschen bis in die Mittelschicht hinein betreffen soll, nimmt viel Platz in der öffentlichen Diskussion ein.

Wie passt das zusammen? Wie steht es denn nun um die Armut im Lande?

Armut wissenschaftlich

Wenn es um die wissenschaftliche Befassung mit Armut geht, bezieht sie sich oft auf Definitionen, die gar nicht der Wissenschaft entspringen, sondern politisch bestimmt werden:

Der Entwicklungsausschuss der OECD (DAC) versteht unter Armut, die Unfähigkeit, menschliche Grundbedürfnisse zu befriedigen. Zu diesen Bedürfnissen gehören vor allem der Konsum und die Sicherheit von Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung, Bildung, Ausübung von Rechten, Mitsprache, Sicherheit und Würde sowie menschenwürdige Arbeit. Als absolute Armut ist dabei ein Zustand definiert, in dem sich ein Mensch die Befriedigung seiner wirtschaftlichen und sozialen Grundbedürfnisse nicht leisten kann. Relative Armut beschreibt Armut im Verhältnis zum jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld eines Menschen.

Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit(BMZ)

Die erste Fassung, die das BMZ entsprechend der OECD-Vorgabe bietet, definiert Armut als Unfähigkeit, die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen. Woher diese Unfähigkeit rührt, angesichts dessen, dass es alles Mögliche auf der Welt im Überfluss gibt – und vieles, weil es zu viel ist, auch vernichtet wird –, bleibt hier offen.

Es ist aber kein Geheimnis. Denn alles ist Eigentum, ist Geschäftsmittel und kostet den Konsumenten daher Geld, weswegen ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft von vielen Dingen ausgeschlossen ist, die es in breitem Umfang gibt.

Zwar ist allen Mitgliedern dieser Gesellschaft die Menschenwürde per Gesetz zugesichert, auch dürfen sie ihre Meinung äußern, die meisten sogar wählen, womit sie eine Form der Mitsprache besitzen. Das sichert ihnen aber nicht ausreichend Wohnraum, Kleidung und Essen; das Dasein als Staatsbürger hat mit ihrer materiellen Existenz nichts zu tun.

Die Unterscheidung von absoluter Armut und relativer Armut hat es zudem in sich. Schließlich beruht die Definition der absoluten Armut auf der Bestimmung wirtschaftlicher und sozialer Grundbedürfnisse. Da stellt sich doch gleich die Frage, was die sind und worin sie bestehen.

Man kann die Frage auch zuspitzen und so stellen: Mit wie wenig kommt ein Mensch aus, ohne zu sterben? Unter den Nationalsozialisten sind Mediziner dieser Frage nachgegangen, in den Konzentrationslagern haben sie sie auf die Spitze getrieben, was vielen ihrer Versuchspersonen das Leben kostete.

Heute wird die gleiche Frage mit Dollarzahlen beantwortet:

Nach der Definition der Weltbank sind Menschen extrem arm, wenn sie weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben… Die 1,90-Dollar-Grenze wird als finanzielles Minimum angesehen, das eine Person zum Überleben braucht.

BMZ

Diese Form der Armut soll es bei uns – so ein breiter Konsens – nicht geben. Da irritiert es auch nicht, dass in den Innenstädten Bettler sitzen, Obdachlose auf Parkbänken schlafen und Menschen bei der Tafel Schlange stehen.

Unklare Armutsdefinition

Für die deutsche Armutsbestimmung führen Wissenschaftler in der Regel die relative Armut an. Die Definition, die das BMZ dafür bietet, lässt vieles offen. Eins kann man jedoch in jedem Fall festhalten: Armut gilt als ein Mangelzustand. Und dass es einen Mangel nur geben kann im Verhältnis zu den Dingen und Leistungen, die in einer Gesellschaft existieren, ist ein Sachverhalt, den man nicht bestreiten kann.

Solange es kein Handy gab, konnte es auch niemand vermissen. Bedürfnisse beziehen sich immer auf Dinge und Leistungen, die vorhanden sind. Und in unserer Gesellschaft werden etliche Bedürfnisse durch Werbung geweckt, ohne dass ihre Mitglieder alle in die Lage versetzt würden, diese auch durch entsprechenden Erwerb zu befriedigen.

Die Mehrzahl der Menschen in diesem Lande muss sich also vieles versagen; was man gerne hätte und was einem durch die Werbung nahegebracht wird, kann nur in vorsichtiger Dosierung und bei strenger Einteilung erworben werden.

Von daher müsste man sagen: Armut ist in dieser Gesellschaft ein weit verbreitetes, alltägliches Phänomen. Doch diesen Schluss will hierzulande keiner gelten lassen. Relative Armut wird daher anders gefasst:

Armut in einer Wohlstandsgesellschaft führt zu einer Legitimations- und Akzeptanzkrise einer Wirtschaftsordnung, die sich als soziale Marktwirtschaft und Sozialstaat versteht. Bei der Suche einer Armutsdefinition kann daher nicht auf irgendwelche ‚objektiven‘ Daten zurückgegriffen werden. Die Bestimmung dessen, was Armut ist, hängt von normativen Entscheidungen ab, konkret von der Definition eines Minimums. Die Armutsdefinition kann sich nämlich, wie die EU-Kommission betont (…), in einer hoch entwickelten, wohlhabenden Gesellschaft nicht auf das physische Minimum beziehen… Relative Armut wird demgemäß als Einkommensarmut verstanden, als eine Unterausstattung mit ökonomischen Ressourcen. Personen bzw. Haushalte befinden sich in Armut, wenn ihr Einkommen nicht ausreicht, um die Güter und Dienstleistungen zu kaufen, die für ein Mindestmaß gesellschaftlicher Teilhabe erforderlich sind.

Bundeszentrale für politische Bildung

Ein interessanter Erkenntnisfortschritt: Die Bestimmung von Armut erfolgt in einer Demokratie, die nichts auf sich kommen lassen will, keineswegs nach den Maßstäben der Wissenschaft, sondern so, dass sie kein schlechtes Bild auf die politisch betreute Wohlstandsgesellschaft wirft.

Während gerade in der Pandemie immer wieder auf die Fakten verwiesen wird, die angeblich die Grundlage für politische Entscheidungen bilden, werden hier die Fakten durch politische Festlegungen oder Entscheidungen geschaffen. Was als "relativ arm" gelten soll und was nicht, sagen die Behörden!

Mit der Aussage, dass Armut relativ ist, soll sie aber nicht nur ins Verhältnis zum vorhandenen Reichtum gesetzt werden. Hier wird vielmehr die Objektivität von Armut bestritten. Da nicht jeder, der über wenige Mittel verfügt, einen Mangel beklagt, sich möglicherweise bescheidet oder die Faust in der Tasche ballt, wird zwischen subjektiver Armut und Einkommensarmut unterschieden. Beide Faktoren sollen nur Indikatoren, also Anzeichen dafür sein, dass Armut vorliegen könnte.

Wobei noch zwischen Armut und "Armutsgefährdung" unterschieden wird. Dies lässt sich dann in Zahlen fassen. Etwa nach einschlägigen "Statistiken zur Armut in Deutschland", veröffentlicht im August 2021.

Demnach waren "im Jahr 2018 in Deutschland 18,7 Prozent der Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und ist definiert als Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Bundesmedians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied".

Von Armut betroffen oder arm zu sein macht für die offizielle Statistik offenbar einen wichtigen Unterschied! Für Letzteres gilt die 60-Prozent-Grenze, für Ersteres die 50-Prozent-Grenze. So wird die Erfassung von Armut ein hochkomplexes Unterfangen.