Baerbock vor UNO: Friedensrede für mehr Krieg

Außenministerin Baerbock vor den UN. Bild: UN Photo/Evan Schneider

Die deutsche Außenministerin hat in ihrer Rede vor den Vereinten Nationen eine Lehrstunde über die "wertebasierte" grüne Außenpolitik abgeliefert

Vor ein paar Tagen kam in einer U-Bahn-Station in Kiew ein kleines Mädchen zur Welt. Ich habe gehört, es heißt Mia. Ihre Familie musste Schutz suchen – wie Millionen anderer Menschen überall in der Ukraine. Schutz vor Bomben und Raketen, vor Panzern und Granaten. Sie leben in Angst, sie leben in Schmerz. Sie sind gezwungen, sich von ihren Liebsten zu trennen. Weil Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat.

So beginnt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ihre von der deutschen Presse als "emotional" bewertete Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen.

Sie hätte natürlich auch damit beginnen können, dass eine kleine Mariam in Sanaa unter dem Hagel saudi-arabischer Bomben zur Welt kommt – Bomben, die Deutschland geliefert hat.

Oder dass eine kleine Mira in Nordsyrien vom Nato-Land Türkei (ebenfalls mit deutschen Waffen) bedroht wird.

Leid und Elend gibt es nämlich wirklich mehr als genug auf diesem Globus; vieles davon unmittelbar verursacht durch Kriege, bei denen Staaten der Nato und ihre guten Bündnispartner mitschießen und bei denen deutsche Waffen im Spiel sind.

Wenn es denn, wie mit dem Schicksal von "Mia" suggeriert, um die miese Lage kleiner Menschenkinder (Mädchen natürlich!) ginge, könnte unsere vom Kriegselend so aufgewühlte deutsche Außenministerin sicherlich an der ein oder anderen Stelle mäßigend einwirken – auch ganz ohne UNO. Darum geht es also nicht.

Annalena Baerbocks Aufregung über das vom Krieg verursachte Elend transportiert tatsächlich ganz gezielt eine Anklage gegen einen bestimmten Staat, Russland. Dessen Krieg ist unerträglich und das von ihm verursachte Elend prangert sie an.

Selektives Geschichtsverständnis

"Ich stehe hier vor Ihnen als Außenministerin meines Landes, aber auch als Deutsche, die das unglaubliche Privileg hatte, in Europa in Frieden und Sicherheit aufzuwachsen." Annalena Baerbock spricht nicht nur als Außenministerin" – wer sonst darf eigentlich in diesem Gremium reden, fragt man sich – sondern als "Deutsche, die das unglaubliche Privileg hatte, in Europa in Frieden und Sicherheit aufzuwachsen".

Als Deutsche, die sich genügend für "Nazi-Deutschland" entschuldigt hat, hat sie offenbar ebenso das Privileg zur selektiven Geschichtswahrnehmung.

Baerbock ist 1980 geboren, war also mündige 19, als die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder und Joseph Fischer Serbien mit bombardiert hat – ein Krieg mitten in Europa, völkerrechtswidrig, weil ohne Plazet der Vereinten Nationen; ein Krieg, der die Grenzen in Europa neu gezogen hat und die "Nachkriegsordnung" in Schutt und Asche gelegt hat.

Aber hier geht es um die Konstruktion einer Anklage gegen Russland – und dafür muss man das ein oder andere vergessen bzw. ordentlich schwarz-weiß-malen:

Die Grundsätze der Vereinten Nationen bilden den Rahmen für unseren Frieden: für eine Ordnung auf der Grundlage von gemeinsamen Regeln, dem Völkerrecht, Zusammenarbeit und friedlicher Konfliktbeilegung. Russland hat diese Ordnung brutal angegriffen. Und deshalb geht es in diesem Krieg nicht nur um die Ukraine, nicht nur um Europa, sondern um uns alle.

Annalena Baerbock

Richterin über das Wohlverhalten von Staaten

Die Völkerrechtlerin Baerbock erinnert daran, dass die Grundsätze der Vereinten Nationen den "Rahmen" "für unseren Frieden" bilden. Natürlich kann man von examinierten und zertifizierten Akademikern nicht verlangen, dass sie einen logischen Schluss ziehen könnten.

Wenn so viel von "Völkerrecht", "Zusammenarbeit" und "friedlicher Konfliktbeilegung" die Rede ist, dann wird es sich wohl um eine Welt harter Interessengegensätze handeln; nicht um den immer beschworenen "allseitigen Nutzen" und das "Win-win", sondern um eine Welt, in der es – auf der Basis der "gemeinsamen Regeln" – zu ökonomischen Gewinnern und Verlierern kommt, und in der es eine geostrategische Konkurrenz um Nutzen und Schaden aus dieser Welt gibt.

Vor der "Geißel des Kriegs" muss offenbar deshalb so viel geschützt werden, weil Krieg in dieser Welt für alle Staaten durchaus eine Option darstellt und sie sich deshalb auch bereits für den Krieg rüsten, wenn sie noch ganz "friedlich" miteinander handeln. Mit anderen Worten: die Vereinten Nationen gibt es gerade deshalb, weil die Nationen dieser Welt sich überhaupt nicht friedlich und kooperativ gegenüberstehen – und sich deshalb always and everywhere in die Quere kommen und ständig etwas auszuhandeln haben.

Aber das will Frau Baerbock als engagierte Kämpferin für "den Frieden" natürlich alles gar nicht wissen. Man könnte geradezu Kaiser Wilhelm II. paraphrasieren: Wir kennen keine Interessen (und ihre Gegensätze) mehr! Wir kennen nur noch einen, der gegen diese "regelbasierte Ordnung" verstößt: "Russland hat diese Ordnung brutal angegriffen."

Die deutsche Außenministerin schwingt sich hier aus der Rolle einer Vertreterin der deutschen Nation auf in die einer über allen stehenden Richterin. Sie argumentiert nicht mit den ökonomischen, politischen und militärischen Interessen, die Deutschland an einer Westorientierung der Ukraine hat und die sich mit den russischen Interessen an einer neutralen und entmilitarisierten Ukraine nicht vertragen – nein, in diese materialistischen Niederungen begibt sie sich erst gar nicht. Sie ruft Russland vom Standpunkt der "Ordnung" zur Raison, deren Hüterin sie – Annalena Baerbock – offenbar höchstpersönlich ist. Für "uns alle" natürlich.

Angriff auf das globale Gewaltmonopol

Russlands Krieg bedeutet ein neues Zeitalter. Wir stehen an einem Scheideweg. Die Gewissheiten von gestern gelten nicht mehr. Heute sind wir mit einer neuen Realität konfrontiert, die sich niemand von uns ausgesucht hat. Es ist eine Realität, die uns Präsident Putin aufgezwungen hat.

Die Behauptung von der "neuen Realität", die mit diesem Krieg im Jahr 2022 in die Welt kommen soll, ist natürlich eine geistige Zumutung angesichts der Kriege, die allein seit 1990 stattgefunden haben und stattfinden: zwei US-Kriege gegen den Irak, die jeweils mit einer inzwischen nachgewiesen falschen Begründung legitimiert wurden und mehr als eine Million Tote zur Folge hatten; die wochenlange Bombardierung Serbiens durch die Nato zugunsten der Kosovo-Separatisten (begründet damit, dass ein angeblich drohender Genozid, der sich dann als Vorwand herausstellte, das Völkerrecht außer Kraft setzte); der jahrzehntelange "Krieg gegen den Terror" mit mehr als einer Million Toten; der Krieg gegen Gaddafis Libyen, die Kriegsdrohung gegen den Iran, der Krieg Saudi-Arabiens gegen den Jemen, die Kriege der Türkei in Nordsyrien und dem Nordirak.

Sinn ergibt diese Behauptung nur in einer Hinsicht: Es ist in der Tat eine neue Realität, dass Russland einen Krieg führt. Russland verstößt damit gegen die US-definierte "Realität", dass sich der Westen das Recht auf Kriegsführung ganz exklusiv angemaßt hatte. Was "Präsident Putin uns aufgezwungen hat", ist der Sache nach eine Infragestellung des Welt-Gewaltmonopols", das die USA seit Auflösung der Sowjetunion in Form ihrer damals ausgerufenen "Neuen Weltordnung" praktiziert haben und das nun dadurch in Frage gestellt ist, dass man Putin nicht dazu zwingen konnte, sich eine weitere Etappe der Nato-Osterweiterung gefallen zu lassen.

Alles Weitere an dieser "neuen Realität" ist allerdings nicht Putin zuzuschreiben. Was die Nato aus diesem neuen Störfall ihrer Weltordnung macht, was insbesondere Deutschland an Schlüssen zieht und in Sachen Aufrüstung und Energie-Politik – Stichwort: "Zeitenwende" – praktisch auf den Weg bringt, das ist keineswegs die Leistung des russischen Präsidenten, sondern geht auf das Konto seiner Kontrahenten.

Es ist sicher keine geringe Funktion dieser Rede, genau das vergessen zu machen und allen Gehirnen einzutrichtern, wer Verantwortung für die "die neue Realität" trägt – sprich: all das, was jetzt noch kommen wird (nach westlicher Vorstellung lieber ein Weltkrieg als eine neutrale Ukraine!).