"Freiwillige Rückführungen" aus der Türkei: Neues Gaza in Nordsyrien?

Teils in solchen Siedlungen, teils in bisher von kurdischen Familien bewohnten Häusern sollen die Geflüchteten nach der "freiwilligen Rückkehr" unterkommen. Foto: ANF

Die Regierung in Ankara will syrische Flüchtlinge loswerden – weichen soll dafür die Stammbevölkerung völkerrechtswidrig besetzter Gebiete

Die Türkei will sich der syrischen Geflüchteten entledigen. Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte Anfang Mai an, eine Million syrische Geflüchtete in eigens dafür angelegte "Siedlungen" in Nordsyrien rückzuführen. Damit setzt Erdogan den Bevölkerungsaustausch und die Vollendung des "arabischen Gürtels" des Assad-Regimes der 1960er-Jahre fort.

Bis zum Beginn des syrischen Bürgerkrieges lebten in Nordsyrien entlang der türkischen Grenze kurdische, jesidische und assyrische Familien friedlich mit arabischen Familien zusammen. Im nordwestlichen Kanton Afrin lebten bis zum Einmarsch der türkischen Armee 2018 mehrheitlich Kurdinnen und Kurden verschiedener Konfessionen. Richtung Nordosten waren einige Regionen eher arabisch oder assyrisch geprägt.

In dieser wirtschaftlich unterentwickelten, multiethnischen und multireligiösen Region entstand in den Wirren des Bürgerkriegs seit 2012 eine demokratische Autonomieverwaltung, die sich neben der Gleichberechtigung der Geschlechter auch ein friedliches Zusammenleben aller Ethnien und Religionen zum Ziel gesetzt hat.

Anfangs war dieses ehrgeizige Projekt von Kurden dominiert, die mit Unterstützung der Anti-IS-Koalition seit Ende 2014 die Terrormiliz "Islamischer Staat" erfolgreich aus der Region verdrängen konnten. Zehntausende junge Kurden der Selbstverteidigungseinheiten YPG und Kurdinnen der YPJ verloren dabei ihr Leben, zehntausende sind kriegsversehrt.

Erdogans dschihadistische Hilfstruppen

Mit den Jahren gewann die Selbstverwaltung immer mehr Sympathien unter der anfangs skeptischen arabischen und assyrischen Bevölkerung. Ganze arabische Stämme schlossen sich der Selbstverwaltung an und gestalten seitdem aktiv dieses im Nahen Osten einzigartige Gesellschaftsmodell mit.

Der Türkei war dies von Anfang an ein Dorn im Auge. Erdogan, der der Muslimbruderschaft nahesteht, setzte in Nordsyrien auf radikale Islamisten wie Al Qaida, Al Nusra, HTS (Hayat Tahrir al Sham) und Überbleibsel des IS als Gegengewicht zu den Syrian Democratic Forces (SDF) der Selbstverwaltung.

Die Türkei unterstützte die Dschihadisten mit Waffen, Logistik und ließ deren Verletzte in ihren Krankenhäusern behandeln. Nach Afrin 2018, besetzte die Türkei 2019 die nordöstlichen Regionen Serêkaniyê (Ras al Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) mit ihrer islamistischen Söldnerarmee SNA (Syrische Nationale Armee) und errichtete eine Terrorherrschaft, in der Vertreibung, Mord, Folter, Entführungen und Vergewaltigungen an der Stammbevölkerung an der Tagesordnung sind.

In diesen drei völkerrechtswidrig besetzten Gebieten baut die Türkei gerade mit Hilfe von Geldern aus Kuwait und Katar riesige "Siedlungen" für syrische Geflüchtete aus der Türkei. In den türkischen Staatsmedien wird ein idyllisches Bild vermittelt: kleine Häuschen im Schachbrettmuster angelegt, mit Moschee, Spielplatz, Bäckerei und Kindergarten werden von türkischen Bauunternehmern für die "syrischen Gäste" gebaut.

Wenn man sich die präsentierten Bilder genauer anschaut, erinnert das Ganze aber eher an die Lager im Gazastreifen, die beliebig erweitert werden können. Solch riesige, abgeschlossene Siedlungen, die besser "Lager" genannt werden sollten, sind gut kontrollierbar. Denn die neuen "Siedlungen" stehen unter Kontrolle der türkischen Organisation AFAD.

Türkische "Sicherheitsorganisationen", die enge Verbindungen zur faschistischen Partei MHP und der Mafia haben, werden die Siedlungen kontrollieren. Die EU hat Milliarden Euro zur Unterstützung der syrischen Geflüchteten in der Türkei bereitgestellt, die auch mit Sicherheit in die Versorgung der "Siedlungen" fließen. Damit finanziert die EU auch in diesem Fall bedenkliche Strukturen. Generell ist davon auszugehen, dass die neuen "Siedler" auf internationale Hilfe angewiesen sein werden, die sich Erdogan vom Westen bezahlen lässt.

Denn wovon sollten sich die "Siedler" fern von ihren ursprünglichen Wohnorten sonst finanzieren? In Nordsyrien gibt es zahlreiche Proteste gegen die Siedlungspläne. Selbst arabische Stammesführer wehren sich gegen die Ansiedlung syrischer Geflüchteter auf ihrem Land und ohne ihre Zustimmung.

"Heute sind wir mit einem neuen und völlig anderen Angriff der türkischen Besatzung konfrontiert als bei den früheren Angriffen, an die wir in den Gebieten im Nordosten Syriens gewöhnt waren", sagt Jamal al-Nahitir, eine prominente Persönlichkeit des al-Wahab-Stammes in al-Tabqa. Der Bau der Siedlungen sei "nichts anderes als eine neue koloniale Methode, die von der türkischen Besatzung und ihren Söldnern verfolgt wird".

Auch gebe es keine terroristischen Gruppen im Nordosten Syriens, wie Erdogan behaupte. "Die terroristischen Gruppierungen sind über die Türkei nach Nordostsyrien gekommen." Damit meint er den IS und verschiedene dschihadistische Milizen, die die besetzten Gebiete mit Unterstützung der Türkei terrorisieren.

Die 51-jährige Alya Muhammad sitzt traurig mit ihren fünf Kindern und ihrem behinderten Ehemann im Camp der Selbstverwaltung für Binnenvertriebene aus Serêkaniyê und denkt an ihr Haus und ihre Besitztümer, die sie nach der türkischen Invasion von Serêkaniyê im Jahr 2019 zurücklassen mussten. "Die Türkei hat uns aus unseren Städten vertrieben, ihre Flugzeuge haben uns bombardiert, so dass wir hier unter einem mit Steinen umgebenen Zelt leben müssen", berichtet sie der Nachrichtenagentur North Press Agency.

Die türkischen Pläne zur Rückführung syrischer Geflüchteter lehnt sie ab: "Das ist inakzeptabel. Die Türkei soll sie in ihre Heimatstädte zurückschicken, damit wir in unsere zurückkehren können. Warum sollen sich Fremde in unseren Häusern niederlassen?" Das würden sie und andere bisherige Bewohner nicht akzeptieren. "Die Türkei soll sie in die Gebiete von al-Assad zurückschicken oder sie in der Türkei behalten", so Alya Muhammad.

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