Who’s Next? Obdachlosigkeit vs. Weihnachtsidylle

In den Wintermonaten ist Obdachlosigkeit potenziell tödlich. Symbolbild: Pixabay License

In Hamburg erinnert eine Ausstellung an Kältetote. Zudem wirft sie die Frage auf, was Architektur zur Lösung beitragen kann – und was die Politik beitragen müsste.

Man geht treppab unter lauter Schlafsäcken hindurch: rote, blaue, grüne. Aber die Farben vermitteln kein Gefühl von Fröhlichkeit oder Freiheit, keine Campingatmosphäre. Die Säcke hängen einfach da, nicht sorgsam aufgereiht wie im Laden oder im Schrank, sondern dicht gedrängt über Wäscheleinen geschlagen, nachlässig. Leer.

Irgendwie bedrohlich, hoffentlich fallen sie nicht runter und bringen einen auf der Treppe zu Fall. Es sind genau 43 Stück – und sie hängen seit Mitte Oktober im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Die leeren Schlafsäcke bilden den Einstieg zur Ausstellung "Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt" und sind, so der Begleittext, ein "trauriges Symbol für die 43 Obdachlosen, die allein im Jahr 2021 in Hamburg gestorben sind."

Wer keine feste Wohnung hat, wird "Obdachloser" genannt. Zu diesem Begriff später mehr. Sind Wohnungen alles, was Obdachlose brauchen? Was kann Architektur erreichen? Ausstellungskurator Daniel Talesnik, selber Architekt, sagt: "Obdachlosigkeit ist nicht ein Architekturproblem, sondern ein politisches Problem."

Die Ausstellungsmacher ergreifen Partei: "Wir müssen die Obdachlosen von der Straße holen!", schreiben sie: Mit der Initiative #NullBis2030 wollen sie die Stadt Hamburg an ihr Versprechen erinnern, Obdachlosigkeit bis spätestens 2030 komplett abzuschaffen. Zugleich sammeln sie Geld, um Obdachlosen dauerhaft ein Dach über dem Kopf zu bieten.

Doch eine Spendensammlung kann in Zeiten der Inflation, in der für auch für Kriegsopfer in der Ukraine und anderen Konfliktregionen sowie für Umweltbelange Spenden gesammelt werden, natürlich das Problem nicht lösen.

Obdachlosigkeit sei ein globales Problem, so die Ausstellungsmacher. Lösungen hingegen müssten vor Ort diskutiert und gefunden werden.

Mehr Empathie durch die Corona-Krise?

Dabei gehen sie von zwei Grundthesen aus. Erstens davon, dass die Pandemie Insolvenzen und einen Anstieg der Erwerbslosigkeit verursacht habe. Deshalb nehmen sie an, dass sich auch die Sichtweise auf Obdachlosigkeit verändert habe: Weithin galten Armut und Obdachlosigkeit als persönliches Verschulden, nun aber könnten weltweit viele Menschen die nächsten sein, die ihr Zuhause verlieren.

Bereits das Motto "Who's next?" deutet an, dass es kein Problem randständiger Milieus mehr sei, keine Wohnung zu finden.

Die zweite Grundthese ist, dass es, obwohl Architektur nicht alle Probleme lösen könne, trotzdem architektonische Lösungen gebe, und dass diese das Leben von Obdachlosen besser machen könnten. Sie stellen 19 kürzlich realisierte Projekte vor, die Obdachlosen Wohnraum bieten.

Diese Projekte haben sie nach programmatischen oder formalen Aspekten ausgewählt – wie dem Einsatz nachhaltiger Baumaterialien, der Umnutzung bestehender Strukturen oder der Verwendung montagefertiger Teile. Zudem stellen sie akademische Projekte vor – wie eine Analyse des Unterkunftssystems in New York City.

Die Ausstellung zeigt aber auch eine Reihe architektonischer "Lösungen", die nur dazu ersonnen wurden, Obdachlose zu verdrängen, "feindliche" beziehungsweise "defensive Architektur": Bänke mit Armlehnen in der Mitte, sodass man sich nicht hinlegen kann, Hindernisse unter Brücken, so dass man dort nicht Zuflucht suchen kann, Metallstacheln auf ebenen Flächen, so dass man dort eigentlich gar nichts machen kann.

Die Macher informieren über Obdachlosigkeit in zehn deutschen Städten - Stuttgart, München, Frankfurt, Köln, Dresden, Leipzig. Düsseldorf, Essen, Hamburg und Berlin – und in Städten im Ausland: Shanghai, Moskau, San Francisco, Los Angeles, Mumbai, Tokio, New York und Sao Paulo.

Insgesamt ist die Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe etwas textlastig – man kann daraus viel lernen. In der Mitte des Saales stehen Litfasssäulen mit Texttafeln. Einige befassen sich mit der Terminologie zum Thema. Die alte Frage, ob Sprache nur beschreibt, oder ob sie auch Tatsachen schafft, wird hier wieder aufgeworfen: Was bedeutet "obdachlos" im Vergleich zu "wohnungslos"?

Ein ganzes Glossar begleitet die Ausstellung: Alter, Marginalisierung, Identität, Intimität, Grundstückswerte, Wohlfahrtsstaat und viele weitere Begriffe werden erläutert und dabei problematisiert. "Identität" zum Beispiel bedeute für das Individuum das Erleben der eigenen Person, sie sei dynamisch und ein lebenslanger Prozess.

Eine von einem Dritten (wieso nicht von einem Zweiten?) zugewiesene Identität orientiere sich "an definierten sozialen Rollen" anhand äußerer Merkmale, dem öffentlichen Verhalten und oft auch sozialen Klischees.

Der Personalausweis diene als Identitätsnachweis und wenn man in Deutschland seinen Wohnsitz verliere, werde die ehemalige Meldeadresse überklebt und "Ohne festen Wohnsitz" (OfW) ersetzt. So werde die Obdachlosigkeit selbst Teil der Identität einer Person. (Darum heißt es in diesem Artikel absichtlich "Obdachloser" – ich finde, vielleicht anders als die Ausstellungsmacher, den Begriff nicht abwertend.)

Erschütternde Beispiele aus den USA

Man kann auch einige Filme zum Thema anschauen. Es ist tragisch: Eine Gruppe Obdachloser in den USA hatte es geschafft, eine Art selbstverwaltete Stadt aufzubauen – sie wurde allerdings von den Behörden zerstört.

Ein Veteran der US Army spricht über sein Leben in der Obdachlosigkeit: wie lange alles dauere, weil er bei jedem Gang, und sei es auch nur zum Waschsalon, seine gesamte Habe zusammenpacken und mit sich führen müsse.

Man sieht und hört diesen Mann und fragt sich, wie es sein kann, dass er, der seine Situation reflektiert, sich gut ausdrücken kann, dem Gesprächspartner ins Gesicht blickt, der offensichtlich tüchtig ist und sich um sein Land verdient gemacht hat, wie es sein kann, dass er auf der Straße, unter Pappen und Planen lebt.

Aber es gibt auch andere Szenen, eine etwa über München, wenn sich zwei Sozialarbeiterinnen vor der Kamera an eine Obdachlose erinnern, "Contessa" nennen sie sie im Rückblick, und diese Contessa baute sich am Straßenrand im Gestrüpp eine Hütte. Dann kamen Behördenmitarbeiter – und sie sollte ihre Hütte abreißen, aber die Frau wechselte einfach die Straßenseite.

Dort waren andere Streetworker zuständig, die Akte musste auf einen anderen Schreibtisch, und dann hat es wegen der Bürokratie gedauert, bis die neuen Behördenmitarbeiter zur Contessa kamen – und so konnte die Frau dort überwintern. Der Humor und die leise Bewunderung im Ton, wenn die Sozialarbeiterinnen sich an diese Frau erinnern, tun gut.

Die 19 Beispiele für architektonische "Lösungen" zeigen, wie Obdachlose unterkommen könnten. Je ein Modell und eine Tafel stellen ein Projekt vor. "Manchmal kann Architektur von einem räumlichen Standpunkt Ideen geben, manchmal von einem programmatischen Standpunkt", sagt Daniel Talesnik, "wir haben 19 Beispiele in der Ausstellung. Es gibt kein Beispiel, von dem wir sagen würden: Dies ist die Lösung."

Stattdessen seien alle Beispiele interessant, "aus unterschiedlichen Gründen, und die Idee ist, dass die Leute in die Ausstellung gehen und verstehen, warum die Beispiele interessant sind."