Atommacht Pakistan: Taliban, Geopolitik und Abgrund

Bevölkerungsgruppen in Pakistan und Afghanistan und das Stammesgebiet der pakistanischen Taliban unter Bundesverwaltung (FATA)

Wirtschafts- und Klimakrise beutelten das Land 2022 schwer. Zusätzlich droht sich jetzt die riskante Afghanistan-Politik zu rächen – eine Steilvorlage für alle Feinde Pakistans.

Pakistans Untergang ist mehrfach prophezeit worden. Gleich die Gründung 1947 war blutig, viele hielten das Land nicht für lebensfähig. Ähnlich verlief 1971 die Abspaltung von Bangladesch, gepaart mit einer verheerenden militärischen Niederlage gegen Indien. Der Aufstand der Paschtunen von 2004 bis 2017 führte zu Zehntausenden Toten und Millionen Inlandsflüchtlingen.

All das hat Pakistan überlebt; wie, kann niemand genau sagen. Nun mehren sich wieder die schlechten Omen. Politik und Armee müssten jetzt gegensteuern, doch wie, weiß wiederum niemand. Es ist klar, was geschehen müsste, doch niemand ist dazu in der Lage.

Dies würde enormes Umdenken erfordern und alle bisherige Politik auf den Kopf stellen. Wenn er kommt, wird Pakistan auch den nächsten Sturm vermutlich überstehen. Aber um welchen Preis? Und wie oft geht das noch "gut"?

Die Armee und der Geheimdienst ISI

In der Islamischen Republik Pakistan, die sich offiziell als Demokratie versteht, formuliert nicht das Parlament und die von ihm gewählte Staatsführung die Sicherheits- und Außenpolitik, sondern die Streitkräfte und davon besonders die Armee.

Das Land ist ein klassisches Beispiel für ein hybrides System, das durch einen unvollständigen Übergang von einer autoritären zu einer demokratischen Staatsform charakterisiert wird. Seit der Unabhängigkeit bestimmen Generäle die Strategie in Fragen der äußeren und inneren Sicherheit, daran hat auch der letzte Rückzug in die Kasernen 2008 nichts geändert.

Mit entworfen und durchgeführt wird die Strategie vom Militärgeheimdienst ISI, dem Inter-Services Intelligence.

Der Anfang der Unterstützung der Taliban

Der Beginn der Kollaboration von ISI und Paschtunenstämmen entlang der Grenze von Pakistan und Afghanistan stand unter ganz anderen Vorzeichen als nach 2001. Geburtshelfer war die sowjetische Invasion in Afghanistan. Pakistan wurde Basis des US-finanzierten Widerstands, der ISI bildete die Mudschahedin aus und erledigte die Logistik.

Die eigentliche Taliban kam erst Anfang der 1990er nach dem Abzug von Sowjets aus Afghanistan ins Spiel. Pakistan war mit dem rauchenden Trümmerhaufen im Nachbarland allein geblieben und wurde selber stark durch den andauernden Bürgerkrieg in Mitleidenschaft gezogen. Von den USA im Stich gelassen, begann man in Eigeninitiative, Stabilität zu schaffen.

Seit 1989 führte man recht erfolgreich mit irregulären Kräften einen Stellvertreterkrieg im indischen Teil Kaschmirs, was den Schluss nahelegte, es mit gleichen Kräften beim westlichen Nachbarn zu versuchen.

Der Name der geförderten Gruppe – Taliban – war zwar neu, ihre Mitglieder waren aber alles Veteranen des Kampfes gegen die Sowjetunion und fast ausnahmslos Paschtunen. Wohl – man kann hier immer nur "vermutlich" schreiben, der ISI streitet bis heute ab, die Taliban zu unterstützen – war den Strategen in Armee und ISI von 1993 von Anfang an klar, dass es unmöglich sein würde, zwischen Paschtunen hier und da, in Afghanistan und Pakistan säuberlich zu unterscheiden.

Auch dass sich die notorisch unregierbaren Stämme nie zu Helfershelfern degradieren lassen. Würden die beidseitig der Grenze lebenden Stämme zum Jihad aufgestachelt, könnten manche früher oder später auf dem eigenen Territorium diesen Weg einschlagen – ja, gegen einen selbst, den Staat Pakistan und seine Sicherheitsorgane. Offensichtlich waren die Strategen bereit, dieses Risiko einzugehen.

Taliban bleiben unkontrollierbar

Es gab wohl (wie es sich in dieser Gegend ganz besonders gehört) ab und zu Knatsch zwischen den Verbündeten. Das Ziel, Afghanistan zu befrieden wurde jedoch, ziemlich rasch sogar, erreicht. Parallel blieben die Paschtunen in Pakistan, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie 1994 in Malakand, ruhig.

Garant war eine relative schlüssige Politik des ISI. Vermutlich wäre länger, vielleicht bis heute, alles so geblieben, wenn es keinen 11.September gegeben hätte. General Musharraf, dem Präsidenten, wurde von Washington im wahrsten Sinne des Wortes die Pistole auf die Brust gesetzt: Entweder mit den USA gegen al-Qaida und die Taliban – oder in die Steinzeit gebombt zu werden. Der General war in einer unmöglichen Situation.

Die letzten zehn Jahre Außenpolitik innerhalb eines Tages zu beenden, wäre schmerzhaft. Sich gegen die USA zu stellen stand jedoch völlig außer Frage, diese Allianz war der wichtigste Baustein der ganzen Sicherheitsarchitektur. Formal überließ Musharraf die Taliban ihrem Schicksal.

Im ISI sahen das viele anders. Dort fühlte man sich nicht nur um die Arbeit seit 1993, sondern seit 1978 betrogen. War doch die gemeinsame Ideologie von Armee, ISI und Taliban der Dschihad und nach dem Ende der Sowjetunion der wahre Gegner – die USA.

Wohl begannen darauf in Aapara, der Zentrale in Islamabad, die Planspiele für einen unmöglichen Spagat, der am Ende zu einer Gefahr für Pakistan selber wurde.

Es kam wie es kommen musste und wie man es in Aapara und wohl auch im GHQ, dem Hauptquartier der Armee in Rawalpindi, vorhergesehen hatte. Die Amerikaner und ihre Verbündeten verirrten sich im afghanischen Labyrinth und bald wurde das Scheitern des Projekts absehbar.

Stärker betroffen war jedoch Pakistan. Vielen der dortigen Paschtunen war die 180°-Wende der Armee zu viel Heuchelei und was der ISI tat, Verrat am Dschihad. Wie sollte es logisch sein, einerseits die Taliban gegen die USA in Afghanistan zu unterstützen, aber nicht die US-Basen im eigenen Land zu bekämpfen?

TTP, die Taliban in Pakistan

2004 begannen die ersten Attacken der "eigenen" Taliban, die sich drei Jahre später zur TTP (Tehreek-e Taliban-e Pakistan, "Bewegung der pakistanischen Taliban") formierte und das Land mit einem Konflikt überzog, der bald den Charakter eines Bürgerkriegs annahm.

Das Army Public School Massaker im Dezember 2014 in Peshawar, das fast 150 Kinder von Soldaten das Leben kostete, führte zwar zu keiner Änderung der Armeestrategie in Afghanistan, aber zu einem viel höheren Gewalteinsatz in den eigenen Stammesgebieten (FATA).

Die Armee führte einen regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen die TTP, das Moratorium der Todesstrafe wurde aufgehoben und Hunderte verurteilte Terroristen exekutiert.

Unter Anwendung drakonischer Mittel wurde endlich das Ziel erreicht, die militanten Paschtunen im Inland auszumerzen und jene in Afghanistan bei ihrem Marsch auf Kabul zu unterstützen.